Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 295-296
Verfasst von: Bernd Bonwetsch
David Stahel: Operation Barbarossa and Germany’s Defeat in the East. Cambridge, New York [usw.]: Cambridge University Press, 2009. XVI, 483 S., 20 Abb., 16 Ktn., 2 Taf. ISBN: 978-0-521-76847-4.
Die Wende des deutsch-sowjetischen Krieges: War es das Scheitern vor Moskau 1941, die Katastrophe von Stalingrad oder der Fehlschlag des Unternehmens „Zitadelle“ 1943? Für jede dieser Thesen gibt es Argumente. David Stahel vertritt in seiner Studie, die als Dissertation an der Humboldt-Universität entstanden ist, die Auffassung, dass das „Unternehmen Barbarossa“ Mitte August 1941 gescheitert sei, weil ein schneller Sieg schon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich gewesen sei. Um das zu belegen, analysiert der Autor zunächst die strategisch-operative Konzeption des deutschen Angriffs und erläutert dann im zweiten, umfangreicheren Teil seiner Studie in Verfolgung des operativen Geschehens seine These.
Die strategisch-operative Planung von „Barbarossa“ ist selbstverständlich nicht mehr unbekannt, und so kommt es Stahel auch nur darauf an, ihre neuralgischen Punkte herauszuarbeiten. Besonders hebt er hervor, dass die divergierenden Ansichten zur strategischen Stoßrichtung ungeklärt geblieben seien, wobei es letztlich um die Wahl zwischen der Eroberung Moskaus oder des kriegswirtschaftlich wichtigen Südens der Sowjetunion ging. Diese Unentschlossenheit sei noch durch die Leichtfertigkeit übertroffen worden, mit der die Wehrmachtsführung, angefangen von Generalstabschef Halder, Hitlers Visionen akzeptierte und in Planungen umsetzte. Warnungen vor der Größe und Landesnatur der Sowjetunion oder Hinweise auf die Widerstandsfähigkeit der Roten Armee wurden missachtet, ebenso die Gefahren, wie sie die Kriegsspiele des Generalstabs im Dezember 1940 offenbarten. Alles wurde in dem Bemühen, Hitler ‚entgegenzuarbeiten‘, oder aus Mangel an Courage zum Widerspruch für durchführbar erklärt. Stahel nennt dieses Verhalten schlicht unprofessionell, und man kann ihm kaum widersprechen.
Hinsichtlich der operativen Durchführung von „Barbarossa“ konstatiert der Autor in einer kompetenten, aber auch ermüdenden Analyse der Kämpfe insbesondere der entscheidenden Heeresgruppe Mitte, dass die Ignorierung aller absehbaren Schwierigkeiten im Vorfeld des Angriffs einen hohen Preis zur Folge hatte: Die Panzerverbände kamen wegen der Wegeverhältnisse nicht so voran wie geplant und verzettelten sich zudem immer wieder in der Niederkämpfung eingekesselter sowjetischer Verbände. Denn nicht nur der Nachschub kam nicht nach, sondern auch die fast sämtlicher Motorisierung beraubte Infanterie nicht, die eigentlich für diese Art Kämpfe vorgesehen war. Hielt das schon die Panzergruppen von ihren eigentlichen Aufgaben ab, so führte die ungeklärte Frage des strategischen Ziels des Unternehmens zusätzlich zu Reibungsverlusten: Die von Halder favorisierte und insgeheim verfolgte, aber gegen Hitler nicht durchgesetzte Konzentration der Kräfte auf die Eroberung Moskaus hätte die einzige Möglichkeit eines schnellen Sieges gewährt, wenn denn der „Körper“ Sowjetunion nach Verlust seines „Kopfes“ – so die bildhafte Vorstellung Halders – auch tatsächlich sein Leben aufgegeben hätte. Hitlers Präferenz dagegen galt der Sicherstellung kriegswirtschaftlicher Ressourcen, und so ließ er von der Heeresgruppe Mitte immer wieder Kräfte für Sicherungsaufgaben an den Flanken und zur Unterstützung der benachbarten Heeresgruppen abziehen.
Die Folge war, dass die Wehrmacht zwar operativ schwindelerregende Erfolge errang, aber ihre Offensivfähigkeit und damit ihr strategisches Potential im Sinne der „Barbarossa“-Konzeption Halders zunehmend verlor. Als dann Hitler nach dem zeit- und kräfteraubenden Sieg bei Smolensk im August 1941 entschied, dass die Einkreisung Leningrads und die Eroberung der Ukraine wichtiger sei als der zügige Vorstoß auf Moskau, sei die Möglichkeit eines Sieges über die Sowjetunion noch 1941 dahin gewesen, wie Stahel feststellt. Sowohl hinsichtlich des operativen Vorgehens, das das strategische Ziel außer Acht ließ, als auch bezüglich der Hinnahme der strategischen Weichenstellung Hitlers attestiert Stahel der gesamten Wehrmachtsführung erneut menschliches wie professionelles Versagen.
War aber „Barbarossa“ wirklich schon im August 1941 gescheitert? Immerhin hätte auch danach noch manches korrigiert werden können. Doch es geschah nicht, und deshalb fehlte, als man Anfang Oktober Kurs auf Moskau nahm, tatsächlich die nötige Offensivkraft. Dabei standen den Deutschen am 7. Oktober die „Tore nach Moskau weit offen“, wie Žukov in seinen Erinnerungen formulierte. Am 15. Oktober, als die deutschen Panzerspitzen die Außengrenzen der Stadt erreichten, brach Panik aus. Alle wichtigen Betriebe und Einrichtungen, die Regierung und das diplomatische Korps wurden überstürzt evakuiert. Vieles zur damaligen Situation ist noch unklar. Ob allerdings die Einnahme Moskaus den Sieg bedeutet hätte, ist eine ganz andere Frage. Sie ist auch durch noch so detaillierte Erörterung des operativen Geschehens auf deutscher Seite nicht zu klären. Klären können hätte der Autor allerdings, ob er meint, dass im August 1941 nur „Barbarossa“ als Blitzkriegskonzept gescheitert sei, was sich vertreten lässt, oder dass damit auch schon die gesamte deutsche Niederlage besiegelt gewesen sei. Das bleibt, angefangen vom Titel der Studie bis zum Schluss, auf irritierende Weise unklar.
Zitierweise: Bernd Bonwetsch über: David Stahel Operation Barbarossa and Germany’s Defeat in the East. Cambridge, New York [usw.]: Cambridge University Press, 2009. XVI. ISBN: 978-0-521-76847-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Bonwetsch_Stahel_Operation_Barbarossa.html (Datum des Seitenbesuchs)
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