Konstantin Kostjuk Der Begriff des Politischen in der russisch-orthodoxen Tradition. Zum Verhältnis von Kirche, Staat und Gesellschaft in Russland. Verlag Ferdinand Schöningh Paderborn [usw.] 2005. 409 S. = Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, 24.
Die Dissertation, die im Sommersemester 2002 von der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt angenommen wurde, setzt mit der Feststellung ein, dass mit dem Ende des Kommunismus in Russland eine Suche nach einer neuen geistigen und politischen Orientierung begonnen habe, welche die Russische Orthodoxe Kirche vor wichtige Aufgaben stellte. Ein Markstein in diesem Prozess sei das Dokument „Die Grundlagen einer Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche“ (in diesem Buch abgekürzt und nicht ganz korrekt „Sozialdoktrin“ genannt), das nach sechsjähriger Vorbereitungszeit im August 2000 von der Moskauer Bischofskonferenz als offizielle kirchliche Verlautbarung angenommen wurde. Die Orthodoxen Kirchen hatten noch nie so ausführlich zu politischen und sozialen Fragen Stellung bezogen wie hier. Wenn Kostjuk auch feststellt, dass in diesem Dokument manche Widersprüche vorhanden seien, bezeichnet er es doch als „ein theologisches Meisterwerk“ (S. 344), das der auf die Tradition ausgerichteten Kirche einen Weg zur Begegnung mit der Moderne eröffnet.
Wie die „Grundlagen einer Sozialkonzeption“ holt auch der Verfasser sehr weit aus, um das in diesem Dokument enthaltene Verständnis des Politischen und Sozialen in die großen geistesgeschichtlichen Zusammenhängen zu stellen. Im ersten Hauptteil „Der orthodoxe Politikbegriff aus philosophiegeschichtlicher Perspektive“ schlägt Kostjuk den Bogen von der Bibel über die Kirchenväter und die byzantinische und russische Geschichte bis in das erste postsowjetische Jahrzehnt. Schwerpunkte liegen bei den Fragen nach der Aufnahme und Weiterführung des byzantinischen Erbes in Russland, dem Beitrag der russischen Religionsphilosophie zum politischen Denken und der geistigen Situation der Gegenwart. Das byzantinische Konzept der Symphonie zwischen politischer und geistlicher Macht entwickelte sich in Russland, wie der Verfasser zeigt, zu einer Sakralisierung des Zaren und des Politischen überhaupt und zu einer orthodox-traditionalistischen Staatsideologie; Kostjuk spricht von „Sozialmetaphysik“. Von hohem Interesse sind seine Untersuchungen zur russischen Religionsphilosophie des 19. Jahrhunderts, in welchen er die Konzepte der sobornost’ Chomjakovs als für das politische Denken Russlands fruchtbar charakterisiert. Zu Recht bedauert er, dass die „hohe intellektuelle Kraft der christlich-orthodoxen Glaubenswelt“ nicht mehr Einfluss auf die politisch schwache Kirche hatte. Ihre apolitische „Bewahrungsideologie“ (S. 146) erschwerte ihr in hohem Maße die Auseinandersetzung mit der Moderne, insbesondere mit Sozialismus und Kommunismus. In den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erkennt Kostjuk drei Grundströmungen im kirchlichen Verständnis des Politischen: einen zivilgesetzlichen Ansatz beim einst dissidenten Priester Aleksandr Men’ (ermordet 1990), einen orthodoxen Fundamentalismus, geprägt vom Petersburger Metropoliten Ioann (Snyčev) (gest. 1995), und den dynamischen Zentralismus, vertreten von Metropolit Kirill (Gundjaev), ab 1989 Vorsitzender der Abteilung für die Auswärtigen Angelegenheiten des Moskauer Patriarchates.
Der zweite Hauptteil der Arbeit Kostjuks gilt der systematischen Betrachtung. In der orthodoxen Theologie bestehe die Gefahr, dass sie ihr traditionelles Bild vom Menschen und der Politik den heutigen Ordnungsvorstellungen gegenüberstelle und diese pauschal ablehne. Damit gerate die Kirche in eine gesellschaftliche Isolation. Sie solle vielmehr die traditionalistischen Elemente ihres Denkens überprüfen und zugunsten eines dynamischen Verständnisses der Tradition korrigieren. Kostjuk arbeitet anhand der Texte des Gregor von Nyssa und der russischen Religionsphilosophen des 19. und 20. Jahrhunderts (darunter auch solche, die – wie z.B. Novgorodcev – im Westen wenig bekannt sind) die hierzu fruchtbaren Elemente heraus und plädiert für eine Übertragung der Philosophie von der sobornost’ (der schwer übersetzbare Begriff wird deutsch jeweils mit „Katholizität“ wiedergegeben) auf eine moderne Soziallehre.
Der dritte Hauptteil befasst sich mit den soziologischen Grundlagen des orthodoxen Politikbegriffes, setzt sich mit der „orthodoxen Sozialmetaphysik“ und den Anforderungen der Moderne, dem Verhältnis von Kirche und Staat, von Kirche und Zivilgesellschaft auseinander und stellt fest, dass – bei allen Verdiensten der neuen „Sozialkonzeption“ – „die Tradition der orthodoxen politischen Theologie eher eine zweischneidige Hilfe“ für die Entwicklung einer pluralistischen Gesellschaft sei (S. 325). Die „Sozialkonzeption“ bejaht die Trennung von Staat und Kirche, eröffnet verschiedene Felder der Zusammenarbeit zwischen beiden und formuliert auch ein Widerstandsrecht der Kirche gegenüber einem antichristlichen Staat, doch sie verkennt „die eigentliche Natur des modernen Staates“ (S. 290). Sehr nachdenklich stimmt, dass Kostjuks meiner Meinung nach zutreffenden Ausführungen zufolge die orthodoxe Kirche von ihren Ansätzen her mit Naturrecht, Demokratie, Menschenrechten, Religionsfreiheit, Pluralismus und Globalisierung bis zum heutigen Tag ausgesprochen Mühe hat, und dass in den letzten Jahren orthodoxer Fundamentalismus, russischer Nationalismus, Antimodernismus und Antiökumenismus in ihr dominierende Strömungen geworden sind. Der Begriff des Politischen wird dadurch stark mitgeprägt und erscheint oftmals widersprüchlich. Die „Sozialkonzeption“ wirkt wie ein Übergangsdokument zwischen Vormoderne und Moderne.
Die Arbeit Kostjuks weist ihren Verfasser als einen sehr gründlichen Kenner der orthodoxen Theologie und Philosophie aus. Es ist ihm gelungen, durch zahlreiche Querverbindungen, Reflexionen und gelungene Gedankenführungen eine sehr anregende Untersuchung vorzulegen. Dass Kostjuk selber Russe orthodoxen Bekenntnisses ist, der durch seinen langjährigen Studienaufenthalt im Westen die abendländische Theologie und Kirche bestens kennt, wirkt sich auf die Arbeit positiv aus. Allerdings bleiben auch Fragen offen. Die theologische Entwicklung in Russland im 16. und 17. Jahrhundert wird m.E. überschätzt, wenn sie als eine „einzigartige Zeit“ beurteilt wird (S. 80), diejenige des 18. Jahrhunderts erscheint mir demgegenüber nicht so steril, wie sie dargestellt ist. Angesichts des Wirkens der Missionare Innokentij Venjaminov, Makarij Glucharev und anderer wird man nicht sagen können, dass die Russische Orthodoxie keine Missionstheologie entwickelt habe (S. 204). Mit der deutschsprachigen Fachterminologie hat sich Kostjuk gut vertraut gemacht, nur gelegentlich finden sich Merkwürdigkeiten wie z.B. die „Kynobythen“ (S. 62) (gemeint Koinobiten).
Erich Bryner, Schaffhausen
Zitierweise: Erich Bryner über: Konstantin Kostjuk: Der Begriff des Politischen in der russisch-orthodoxen Tradition. Zum Verhältnis von Kirche, Staat und Gesellschaft in Russland. Verlag Ferdinand Schöningh Paderborn [usw.] 2005. = Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, 24. ISBN: 3-506-70134-7, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Bryner_Kostjuk_Begriff_des_Politischen.html (Datum des Seitenbesuchs)