Andrej Mitrović Serbia’s Great War 1914–1918. C. Hurst & Co. (Publishers) London 2007. XVI, 386 S.
Obwohl die „europäische Urkatastrophe“ im Juli 1914 mit der österreichisch-ungarischen Kriegserklärung an Serbien begann, hat die westliche Geschichtsschreibung den Ereignissen in Südosteuropa bislang wenig Beachtung geschenkt. Das Thema muss ohne Übertreibung als „unterforscht“ bezeichnet werden, und auch die meisten Gesamtdarstellungen verzichten auf eine intensivere Auseinandersetzung mit Vorgeschichte, Verlauf und Folgen des Ersten Weltkrieges auf dem Balkan, was der defizitären Literaturlage zu schulden ist. Es ist also nur zu begrüßen, dass nun diese substantielle, bereits 2004 auf Serbisch erschienene Monographie über den „Großen Krieg“ in englischer Übersetzung vorliegt.
Mitrović, der in Belgrad Neuere Geschichte lehrte und für sein wissenschaftliches Werk vielfach ausgezeichnet wurde, hat mit dieser Monographie eine umfassende, überzeugende und bewegende Gesamtdarstellung Serbiens im Ersten Weltkrieg vorgelegt. Die Monographie fußt auf umfangreichen Archivforschungen, die der Autor in (post-)jugoslawischen, deutschen, österreichischen, englischen und französischen Archiven unternommen hat, sowie auf der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur. Sie behandelt die österreichisch-ungarischen Kriegsziele und die Julikrise 1914, den Angriff auf und die Besatzungszeit in Serbien, die wirtschaftliche Ausbeutung und den Widerstand sowie die Vorgeschichte zur Gründung Jugoslawiens. Der Zugriff ist primär diplomatie- und politikgeschichtlich, während neuere kulturhistorische Fragestellungen außen vor bleiben. Dies ist allerdings angesichts des Pioniercharakters dieser Arbeit und des leserfreundlichen, begrenzten Seitenumfangs mehr als gerechtfertigt.
Vor allem zwei Befunde von Mitrović sollte die Weltkriegsforschung künftig stärker einbeziehen: Erstens wird hier die Dynamik des seit 1908 schwelenden Konflikts zwischen Österreich-Ungarn und Serbien belegt, der seit der Annexionskrise scheinbar unaufhaltsam auf die militärische Konfrontation und Zerschlagung des kleinen Balkanstaates zusteuerte. Zweitens dokumentiert das Buch die Brutalisierung und die Totalisierung des Krieges, die beide auf dem Balkan bereits im Sommer 1914 gängige Praxis waren und die keineswegs lediglich als später Reflex auf die militärischen Probleme an der Westfront zu deuten sind. Österreichisch-ungarische, später auch deutsche und bulgarische Besatzer verübten in Serbien und Makedonien umfassende Zerstörungen und schrecklichste Massenverbrechen, die denen im Westen, etwa in Belgien, vergleichbar sind. Aber kein europäisches Land hat im Ersten Weltkrieg so starke Bevölkerungsverluste und so große Zerstörungen hinnehmen müssen wie Serbien. So erklärt die Geschichte des Ersten Weltkrieges nicht nur, warum dieser zum Gründungsmythos Jugoslawiens werden konnte, sondern auch, welche schwer überbrückbaren inneren Probleme er hervorbrachte. Ohne Kenntnis dieser Schlüsselereignisse werden sowohl das Gesamtbild des Ersten Weltkrieges wie auch das der jugoslawischen Geschichte unvollständig bleiben.
Marie-Janine Calic, München
Zitierweise: Marie-Janine Calic über: Andrej Mitrović Serbia's Great War 1914–1918. C. Hurst & Co. (Publishers) London 2007. XVI, 386 S. ISBN: 978-1-55753-477-4, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Calic_Mitrovic_Serbias_Great_War.html (Datum des Seitenbesuchs)