Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Ausgabe: 59 (2911) H. 3
Verfasst von: Marie-Janine Calic
Oliver Jens Schmitt: Kosovo. Kurze Geschichte einer zentralbalkanischen Landschaft. Wien: Böhlau; Stuttgart: UTB, 2008. 393 S., 21 Abb. ISBN: 978-3-8252-3156-9; 978-3-205-77836-3.
Dieses Buch versteht sich nicht als umfassende Gesamtdarstellung, sondern als analytischer Aufriss der Geschichte Kosovos seit der Antike. Schmitt bietet eine knappe Synthese vorhandener Forschungsliteratur. Ganz am Anfang des Buches werden plakativ konkurrierende nationale Geschichtsbilder gegenübergestellt. Die weitere Erzählung nimmt auf die eingangs vorgestellten serbischen und albanischen Master-Narrative dann allerdings keinerlei Bezug mehr. Anders als etwa Noel Malcolms „Geschichte Kosovos“, die tief in die Quellenkritik einsteigt und divergierende Interpretationen gegeneinander abwägt, ist die Erzählung hier relativ geradlinig, und zwar selbst bei so unvollkommener und widersprüchlicher Forschungslage wie im Fall der Schlacht auf dem Amselfeld 1389. Da das Buch ganz ohne Fußnoten und Belege auskommt, bleibt dann auch im Dunkeln, auf welcher Grundlage der Verfasser selbst zu seinen Erkenntnissen gelangt.
Die Darstellung bietet zuallererst einen nützlichen Einstieg in die frühneuzeitliche Strukturgeschichte des Zentralbalkans. Im ersten Hauptteil werden die Herrschaft Roms sowie des Byzantinischen und des Osmanischen Reichs, Wirtschaft und Gesellschaft, Religionen und Sprachen sowie Migrationsbewegungen in der Vormoderne behandelt. Kosovo entstand als politisch-territoriale Einheit ja erst nach 1945, weshalb es in früheren Zeiten in übergeordnete regionale Zusammenhänge eingeordnet werden muss. Dabei entsteht das Bild einer multikulturellen Geschichtslandschaft, in der ethno-religiöse Konflikte bis weit in das 19. Jahrhundert hinein erst einmal keine größere Rolle spielten und in der sich vormoderne Gesellschaftsformationen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts hielten.
Im zweiten Teil wechselt die Darstellung zur politischen Geschichte, wenn jetzt von der Periode die Rede ist, in der Kosovo Teil Serbiens (seit 1912) bzw. Jugoslawiens (seit 1918) war. Das 20. Jahrhundert beschreibt Schmitt im Lichte einer permanenten Unterdrückung der Albaner durch Serbien bzw. Jugoslawien, womit er grundsätzlich der national-albanischen Sichtweise folgt.
Jugoslawien als Staat kommt insgesamt ziemlich schlecht weg. Das königliche Jugoslawien wird als „erster Versuch eines großserbischen Staates“ bezeichnet (obwohl die jugoslawische Idee ja in Wirklichkeit aus der kroatischen Nationalpolitik hervorging). Wir lesen von der „rücksichtslosen Unterdrückung besonders der Kroaten, Albaner und bulgarischorientierten Bevölkerung“ Makedoniens. Zumindest, was die Kroaten angeht, die 1939 sogar eine eigene Banschaft erhielten, ist der Begriff „rücksichtslose Unterdrückung“ verfehlt. Und auch bezüglich der anderen Bevölkerungsgruppen wären sicherlich Differenzierungen angebracht. Ausführlich wird die geheime Denkschrift des Historikers Vasa Čubrilović aus dem Jahr 1937 referiert, in der er der königlichen Regierung die Diskriminierung und „Evakuierung“ hunderttausender Albaner anriet. Schmitt präsentiert sie als eine Art serbischen Masterplan für ‚ethnische Säuberungen‘. „Zahlreiche seiner Elemente“, schreibt Schmitt, seien „in unterschiedlicher Intensität – kurz vor dem Zweiten Weltkrieg und dann zwischen 1945 und 1966 sowie zwischen 1989 und 1999 in die Tat umgesetzt“ worden (S. 209). Das passt zwar gut in das Narrativ der ewigen Verfolgung, ist aber unzutreffend. Čubrilovićs Vorschläge blieben seine private Meinung und wurden weder vor noch nach dem Zweiten Weltkrieg je zur offiziellen Politik gemacht. Ob sie in einem Teil der national denkenden Klasse Serbiens insgeheim Zustimmung fanden, steht auf einem anderen Blatt. Auch im weiteren Gang der Erzählung schimmern national-albanische Stereotype durch: Der Einmarsch der Achsentruppen sei 1941 von allen Nichtserben im ganzen Land begrüßt worden (wie aber erklärt sich dann die Breite des Widerstands?), die Kollaboration mit Faschisten und Nationalsozialisten sei lediglich eine Schutzmaßnahme gewesen, und auch nach 1945 seien die Albaner nicht gleichberechtigt gewesen, da ihre Provinz ja keinen Republikstatus erhielt.
Fairerweise berichtet das Buch aber auch über die Fortschritte infolge der sozialistischen Modernisierungspolitik, etwa bei Bildung, Gesundheit und Medien, und über die sehr weitgehenden Rechte, die Kosovo durch die Verfassungsänderungen 1968 erhielt. Schmitt schildert, wie die politische Liberalisierung zu einer fortschreitenden Albanisierung der Provinz und zu einer engen Zusammenarbeit mit dem Albanien Enver Hoxhas führte. Interessant sind besonders die Teile, die Kosovo in den Kontext der Politik Albaniens und panalbanischer Strömungen stellen. Der Autor zeigt, wie Titos Versuch, eine eigenständige kosovarische Nationalidentität zu konstruieren, scheiterte, und wie die später staatlich sanktionierte Pflege eines grenzüberschreitenden Gemeinschaftsgefühls zur schleichenden Entfremdung vom jugoslawischen Staat führte. Schmitt thematisiert in diesem Zusammenhang zudem das Wirken von Emigranten, kriminellen Untergrundstrukturen sowie panalbanischen Extremisten (S. 240ff).
Die weitgehende Abschaffung der Autonomie Kosovos durch Slobodan Milošević wird in der Kontinuität der Geschichte seit 1918 gedeutet. Schmitt parallelisiert sie immer wieder mit dem Nationalsozialismus, etwa wenn im Zusammenhang der Verfassungsänderungen von 1989/90 von „Gleichschaltung“ und von Analogien zum Ermächtigungsgesetz 1933 die Rede ist (S. 309–310). Čubrilovićs nie realisierte Denkschrift erinnert den Autor sogar „an Methoden der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in Osteuropa“ (S. 208).
Unter Umständen wurde das Buch, das auf einer Lehrveranstaltung fußt, in großer Eile niedergeschrieben. Jedenfalls gibt es störende Ungenauigkeiten und Fehler. Titos Wahlspruch hieß „Brüderlichkeit und Einheit“, nicht “Einheit und Brüderlichkeit“ (S. 307). Die kroatische Offensive in der Krajina namens „Oluja“ wird als „Blitz“ anstatt „Sturm“ übersetzt (eine Operation „Blitz“ gab es zwar auch, aber die war früher) (S. 327). Und Slobodan Miloševićs viel zitierter, an die Kosovo-Serben gerichteter Satz aus dem Jahr 1987 „Niko nesme da vas bije“ (Niemand darf Euch schlagen) wird als „Keiner soll es wagen, euch zu schlagen“ wiedergegeben, womit ein drohender Unterton in die Grundaussage kommt (S. 306).
Die gegenwartsnahen Kapitel überzeugen wenig. Internationale Akteure werden schlicht als „die Großmächte“ bezeichnet, selbst wenn die UNMIK, die EU oder die NATO gemeint sind. Auch Deutschland und Italien steigen so zu „Großmächten“ auf (S. 336). Ihre anfängliche Reserviertheit gegenüber Militärinterventionen wird nicht nur mit dem Zweiten Weltkrieg, sondern vor allem mit Antiamerikanismus erklärt (S. 328). In der multilateralisierten Welt des 21. Jahrhunderts klingt das alles etwas nach Stammtisch. Auf S. 367 wird der Leiter der europäischen Rechtsstaatsmission EULEX als „Vizekönig“ bezeichnet – offensichtlich liegt eine Verwechslung der nur beratenden EU-Expertengruppe mit dem viel prominenteren und mit einem exekutiven Mandat ausgestatteten Internationalen Zivilen Beauftragten (ICR) vor, den der Text gar nicht kennt.
Das Buch blättert viele wichtige und interessante Themen auf. Es ist als einführende Lektüre gut geeignet. Wer sich zuverlässig informieren will, sollte aber in jedem Fall noch zu anderen Werken greifen.
Marie-Janine Calic, München
Zitierweise: Marie-Janine Calic über: Jens Oliver Schmitt Kosovo. Kurze Geschichte einer zentralbalkanischen Landschaft. Böhlau Verlag Wien; UTB Stuttgart 2008. ISBN: 978-3-8252-3156-9; 978-3-205-77836-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Calic_Schmitt_Kosovo.html (Datum des Seitenbesuchs)
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