Zeichen des Wohlstands?
Von der Evolution der Körpergröße bis zur Russischen Revolution:
1917 als Ergebnis einer „Public Relations-Kampagne“ der intelligencija
Boris Nikolaevič Mironov: Blagosostojanie naselenija i revoljucii v imperskoj Rossii. XVIII – načalo XX veka [Der Wohlstand der Bevölkerung und die Revolutionen im imperialen Russland, 18. bis Anfang 20. Jh.]. Moskva: Novyj Chronograf 2010, 911 S., Ill., Tab.
Mironov hat annähernd 306.000 individuelle anthropometrische Datensätze von Männern und Frauen sowie zusätzlich ca. 10,3 Mio. Angaben von gemusterten Männern im Zeitraum seit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1874 bis zum letzten Friedensjahr 1913 ausgewertet (S. 16 f). Zu würdigen ist vor allem die Interdisziplinarität des methodischen Zugriffs, denn Mironov bedient sich u. a. der Anthropometrie, der Biologie, der Mathematik und der Statistik.
Die Untersuchung verfolgt zwei Ziele. Vordergründig geht es erstens darum, den Zusammenhang von Körpergröße und materiellem Wohlergehen der Bevölkerung aufzuzeigen. Ebenso basal wie strukturierend ist das zweite Anliegen: Mironov möchte das schlechte Image des Zarenstaats als Vorläufer der heutigen Russländischen Föderation aufpolieren und der Nachwelt ein positives Bild der Vergangenheit, insbesondere der Staatlichkeit vermitteln. Mironov ist insofern ein Etatist, weil er den Staat als entscheidenden und alleinigen mit Ratio ausgestatteten Akteur der Modernisierung betrachtet. Aber der russische Staat erwies sich im Sinne Hegels nicht als sittliche Emanation der Gesellschaft, sondern war oft ihr Antipode, dem sie kein Systemvertrauen entgegenbrachte, auch weil er Politik als sein Arkanum betrachtete. „Staatsgeschäfte“ hatten folglich nicht Gegenstand gesellschaftlichen Räsonnements zu sein. Mironov wendet sich gegen die pessimistischen, unpatriotischen ‚Nestbeschmutzer‘ wie Vasilij Osipovič Ključevskij, der an der Wende zum 20. Jahrhundert das Ancien régime für einen niederen Organismus im Bereich der internationalen Zoologie hielt, und andere Historiker im In- und Ausland, die mit negativen Urteilen über Despotie und Repression in seiner Heimat aufwarteten (S. 14 f). Mironovs Absicht hingegen ist, Russland als ein „normales europäisches Land“ zu präsentieren (S. 17). Abgesehen von der Schwierigkeit, „normal“ zu definieren, überrascht bereits eingangs der Darstellung sein missionarischer Impetus. Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, dass sich der Historiker Mironov wie Karamzin, der Doyen dieser Zunft, an der schieren Größe des Landes berauscht (S. 692 f). Wenn den Historiker allerdings Apologie und eine nicht nuancierende Darstellung auszeichnen, wie ist es dann um seine kritische Distanz zur Materie bestellt?
In seiner jüngsten Monographie hingegen macht Mironov die gebildete Gesellschaft für das Scheitern des Ancien régime verantwortlich. Dieser Erklärungsansatz erscheint wie Deus ex machina – und er überzeugt nicht. Seine Argumentation erinnert hier an Richard Pipes’ mehrbändige Darstellung der Russischen Revolution: Dessen gegen die intelligencija gerichteter Furor findet sich auch in der vorliegenden Darstellung. Bemerkenswert ist, dass eine Ursachenanalyse der kritischen Haltung weiter Teile der Gesellschaft gegenüber der Autokratie unterbleibt. Kein Wort erstens über das mangelnde Systemvertrauen der Gesellschaft als Folge eingeschränkter Öffentlichkeit, der Zensur, marginaler Partizipationsangebote, fehlender Bürgerrechte und defizitärer Rechtsstaatlichkeit. Auf die Bedrohung seiner Herrschaft reagierte das Ancien régime seit 1881 mit einer Militarisierung der inneren Sicherheit, die weite Kreise der Gesellschaft der Autokratie entfremdete. Der Zarenstaat befand sich auf dem Weg in einen Präventionsstaat. Folgt man Mironov, waren die politischen Verhältnisse im Zarenreich „objektiv“ gut und sie wurden spätestens nach dem Oktobermanifest immer besser. Russland habe sich in eine konstitutionelle Monarchie mit freier Presse und einer blühenden Zivilgesellschaft, deren Anfänge Mironov bereits auf das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts datiert, verwandelt (S. 666). Wenn diese Zivilgesellschaft aber so stark war, warum konnte sie dann 1917 die radikalen Kräfte nicht einhegen? Darüber hinaus verzerren die von Mironov für die Hauptstädte angeführten Zahlen in Bezug auf die Vereinsdichte das Bild der Zivilgesellschaft im Zarenreich, denn in der Provinz war ihr Organisationsgrad deutlich geringer. Diese aber hat Mironov nicht berücksichtigt (S. 663). Der Staat habe sich vielmehr in die gesellschaftliche Belange umgekehrt proportional zu deren Entwicklungsstand eingemischt. Folgt man Mironov, so hat also eine staatliche Ingerenz am Ende kaum noch stattgefunden. Seine optimistische Sicht teilen selbst unter denen, die zur Zivilgesellschaft gearbeitet haben, beileibe nicht alle. Auch wenn Manfred Hildermeier sich der Metapher eines halbvollen Glases bedient, dann schwingt eine gehörige Portion Skepsis über den Grad der zivilgesellschaftlichen Entwicklung des Zarenreichs mit. Und gerade mit Blick auf den Fortbestand der Ausnahmegesetzgebung – der eigentlichen Konstitution des Reiches, wie Zeitgenossen urteilten –, die die Bürgerrechte aufhob, erhält Mironovs Diktum eine zynische Wendung ins Gegenteil (S. 691). Es ist bezeichnend, dass Mironov Max Webers Verdikt des Scheinkonstitutionalismus, Stolypins Staatsstreich vom 3. Juni 1907, die Mendel Bejlis-Affäre oder den „Staatsterror“ völlig ausblendet, über den die europäische Presseöffentlichkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts intensiv berichtete.
Als Hauptcharakteristika der Moderne betrachtet Mironov die industrielle Produktion, den Rechtsstaat, die Zivilgesellschaft und die rationale Autonomie des Individuums (S. 661). Unter Modernisierung versteht Mironov unter dem Einfluss von Industrialisierung, Urbanisierung und wirtschaftlichem Wachstum die Transformation einer traditionalen und landwirtschaftlichen geprägten Gesellschaft in einen das Privateigentum an Produktionsmitteln gewährleistenden, marktwirtschaftlich organisierten, bürgerlich-demokratischen Rechtsstaat. Faktisch beschränkt sich aber sein Verständnis von Modernisierung sehr oft auf die wirtschaftliche Perspektive, vor allem die Industrialisierung, und den Staat als Akteur, ohne aber die Folgekosten für die Bevölkerung gebührend zu berücksichtigen. Mironov betrachtet dabei den materiellen Wohlstand der Bevölkerung eines Staats als Endresultat und zugleich als Index für den Erfolgsgrad eines Modernisierungsprozesses (S. 621).
Die Quintessenz der Darstellung lautet: Der russische Weg der Modernisierung war erfolgreich und effektiv. Wie kam es dann aber ungeachtet des Wohlstands der Bauern zu ihrem Landhunger? Wieso konnte der Staat hier nicht entgegensteuern? Nimmt man die landwirtschaftliche Entwicklung, die vor allem auf Flächenerweiterung, nicht aber auf Intensivierung der Produktion setzte, wie sie insbesondere auch der liberale Agrarfachmann Aleksandr A. Kaufman anmahnte, dann kann die geringe Produktivität kaum erstaunen. Mironov hingegen führt aus, die intelligencija habe in der Intensivierung keinen Ausweg aus der landwirtschaftlichen Krise gesehen (S. 45). Dass Mironov lobende Worte für die Stolypinschen Agrarreformen findet (S. 319, 665), überrascht nicht. Gleichwohl stellt sich die Frage, woran Mironov den Erfolg der Reformen misst? An der zunehmenden Körpergröße der Bevölkerung? Demnach wären die Epochen Peters I. und Katharinas II., in denen Russland zur europäischen Großmacht avancierte, als Fehlschläge zu deuten, weil die Durchschnittsgröße der Rekruten zurückging (S. 622). Mehr noch: Dass der Staat seine Modernisierung oft erst unter Druck wie nach dem Krimkrieg oder der Revolution von 1905 initiierte, dass seine Reformen unsystematisch erfolgten und damit möglicherweise entscheidend zu einer Krise des Herrschaftssystems beitrugen, thematisiert der Autor ebenso wenig wie die mangelnde Reformbereitschaft des Staates, beispielsweise bei der Binnenmigration, der Aufhebung der Verbannungsstrafe oder auch beim Toleranzedikt. Und ließe sich nicht auch argumentieren, dass der Erfolg sich früher eingestellt hätte und nachhaltiger gewesen wäre, wenn die zarische Regierung in stärkerem Maße sich auf dem Gebiet der Volksbildung engagiert hätte – Mironov irrt im Übrigen, wenn er dem Zarenreich attestiert, bereits die allgemeine Schulpflicht eingeführt zu haben (S. 670) – und damit einen wichtigen Beitrag zur Überwindung einer dualen Kultur, bei der die Diskrepanz zwischen Stadt und Land erheblich war, geleistet hätte? Eine solche Analyse wäre jedoch mit Kritik am Ancien régime verbunden gewesen. In dem erwähnten Interview mit dem „Berliner Tageblatt“ fuhr Suvorin über die Gründe des Blutsonntags 1905 fort: „Glauben Sie mir, es wäre nicht dazu gekommen, wenn wir eine vernünftige, tüchtige Regierung hätten.“ Von dieser nicht nur zeitgenössischen Sicht ist Mironov aber, weil sie seinem Interpretationsschema zuwiderläuft, weit entfernt.
Folgt man Mironovs Narrativ, fiel der zarische Staat, in dem offenbar alles zum Besten bestellt war, einer „PR-Kampagne“ der regimekritischen intelligencija zum Opfer (S. 671, 674, 692). Die Einseitigkeit seiner Argumentation führt dazu, dass der Staat für Mironov der Protagonist ist, während dessen radikale gesellschaftlichen Antipoden – und damit meint er insbesondere die liberal-demokratische obščestvennost’ – keinerlei konstruktiven Beitrag geleistet, mit ihrer Propaganda nur einer Atmosphäre der politischen und wirtschaftlichen Krise das Wort geredet und damit der Revolution erst den Boden bereitet hätten. Mironov konstruiert eine Verschwörungstheorie der gesellschaftlichen Institutionen einschließlich der zemstva und Stadtverordnetenversammlungen gegen den zarischen Staat (S. 594, 637, 639, 665, 690). Aber wieso konnte der Staat beispielsweise mit seinem Reptilienfonds einerseits und der offiziösen Presse anderseits den Erfolg dieser gesellschaftlichen PR-Kampagne nicht verhindern?
Laut Mironov nahm die durchschnittliche Körpergröße russischer Bauern im Zeitraum 1876 bis 1880 gemessen am Vergleichszeitraum 1861 bis 1865 um drei Zentimeter zu. Dies wertet der Verfasser als Indiz wachsenden Wohlstands. Mit diesem Befund versucht er nicht nur die zeitgenössischen Ökonomen und Publizisten, die eine Pauperisierung konstatierten, zu widerlegen, sondern zieht zugleich auch gegen die Historiker zu Felde, die die These unbesehen übernahmen, folglich die sozialen Verhältnisse im Zarenreich schlechtredeten und ihm sogar eine Systemkrise attestierten. Hiergegen verwahrt sich Mironov vehement (S. 41–47, 640–674, 689). Überraschend ist allerdings dann folgender Satz: „Nichtsdestoweniger überzeugten die Bauern die gebildete Gesellschaft und die Regierung davon, dass ihre Lage unerträglich war, und erreichten eine Verringerung der Loskaufzahlungen.“ (S. 334) Waren alle Zeitgenossen blind und unwissend? Für Mironov ist dies zumindest mit Blick auf die intelligencija bzw. die Repräsentanten der Gesellschaft unbestritten, weil sich die zeitgenössischen Experten als Gefangene ihrer Gedankenwelt erwiesen hätten (vgl. S. 597, 600). Befindet sich allein Mironov im Besitz des Steins der Weisen? Mironov konzediert, eine über Jahrzehnte anhaltende Verbesserung des bäuerlichen Lebens bedeute nicht, dass die breite Mehrheit in Wohlstand gelebt habe (S. 662). Gleichwohl schildert er eine bukolische Idylle. Die Bauern hätten 1907 lediglich 107 Tage gearbeitet, während im Westen des Kontinents, wo die protestantische Arbeitsethik verbreitet war, 300 Tage p. a. die Norm waren (S. 557, 662). Wie lässt sich dieser Befund mit Mironovs These vom erfolgreichen Modernisierungsprozess, der doch mit Selbstdisziplinierung einhergeht, in Einklang bringen? Die von Mironov viel gescholtene intelligencija kritisierte die geringe Arbeitsproduktivität der Bauern, doch findet ihre Kritik ebenso wenig genauere Betrachtung wie beispielsweise die Hungersnot von 1891 in den Gebieten der mittleren Wolga. Sie forderte nicht nur über eine halbe Million Tote, sondern war das Schlüsselerlebnis für Tausende von Angehörigen der Gesellschaft, die sich von der Regierung des Ancien régime wegen dessen desaströsen Krisenmanagements abwendeten. Das Krisenszenario war sinnbildlich: Der Beamtenapparat traute der Gesellschaft und ihren lokalen Selbstverwaltungsorganen nicht(s zu). Dieses fehlende Vertrauen führte zur Entfremdung, wie vielen zeitgenössischen Selbstzeugnissen zu entnehmen ist, nicht aber zu den von Mironov ausgewerteten statistischen Massendaten über Körpergrößen. Dass der Dissens in Revolutionen mündete, 1905 und 1917, ist somit eventuell weniger überraschend als es Mironov suggeriert.
1914 betrug das russische Pro-Kopf-Einkommen lediglich etwa ein Drittel des französischen bzw. des deutschen. Als Indikator des russischen Wohlstands dürfte dieses Gefälle kaum betrachtet werden können. Mironovs an das olympische Motto „Schneller, höher, weiter“ gemahnende Argumentation erinnert ein wenig an die Statistiken, mit denen Stalin seit 1929 die Industrialisierungserfolge illustrierte: Beeindruckende prozentuale Zuwachsraten. Aber diese Argumentation krankt daran, dass dem geringen Ausgangsniveau nicht gebührend Rechnung getragen wurde (S. 690).
Schließlich ein letzter grundlegender Einwand: Mironov hält die von ihm angeführten Daten für „objektiv“ (S. 22). Die Französische Revolution beispielsweise brach nicht aus, als die soziale Not am größten war, sondern nachdem eine leichte Verbesserung der Verhältnisse eingetreten war. Im Übrigen: Mit einer Verbesserung der materiellen Situation wuchsen auch Wünsche und Begehrlichkeiten. Selbst wenn sich die soziale Lage der Bevölkerung des Zarenreichs über einen längeren Zeitraum verbessert haben sollte, sagt dies nichts über eventuell enttäuschte Erwartungen aus. Nicht in Erfüllung gegangene Hoffnungen und eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich können durchaus der Nährboden sein, auf dem Revolutionen gedeihen. In Zahlenkolonnen über durchschnittliches Körperwachstum ist der subjektive Faktor nicht zu finden, und die Bereitschaft zur Revolution ist daraus nicht zu ermitteln. Weil menschliche Subjektivität und Irrationalität in Mironovs quantitativen Methoden keine Rolle spielen, greift seine Darstellung zu kurz. Sein Bild ist einseitig und unvollständig. Mironov attestiert beispielsweise Miljukov eine kognitive Dissonanz (S. 672); dabei ist gerade die Selektivität der informationellen Perzeption Mironovs stupend, indem er nicht in seine Argumentation passende Positionen schlicht nicht thematisiert. Im Übrigen berücksichtigt er auch eine wichtige Erkenntnis Roger Chartiers nicht, nämlich dass auch die gedachte Wirklichkeit Handlung leitend ist.
Als Kronzeuge des Mironovschen Narrativs figuriert wiederholt der Dichter A. A. Fet, der sich beispielsweise im klassischen paternalistischen Gestus der von Mironov zutiefst verachteten intelligencija über bäuerlichen (Luxus-)Konsum mokierte und insbesondere die „Putzsucht“ der Bäuerinnen verurteilte. Er vertrat die Ansicht, ein Bauer, der eine Uhr trage, sei kein Bauer mehr. Über die Gründe seines apodiktischen Urteils schwieg sich nicht nur Fet aus. Vielleicht sagt es mehr über den Urteilenden aus und dessen möglicherweise atavistische Repräsentationen der Bauern, von seinen Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen ganz zu schweigen, als über diejenigen, die er in den Blick nahm. Im Übrigen sah sich Mironov nicht bemüßigt, dieses Zitat zu interpretieren. Fets Ausführungen kulminierten in der zynischen Schlussfolgerung, die Mironov implizit übernimmt, dass der Bauer vor allem gearbeitet habe, um sich Wodka kaufen zu können (S. 565). Dass Trunksucht oft Ausdruck einer verzweifelten sozialen Lage bzw. der Verarmung ist, hätte nicht in Mironovs Argumentation gepasst. Umso bemerkenswerter ist, dass Mironov weder den zeitgenössischen Diskurs um Alkoholismus einschließlich des Vorwurfs, der Staat fördere die Trunksucht, um sein Budget zu vergrößern, noch die Bemühungen der Temperenzbewegung oder auch der Arbeiterschaft aufgegriffen hat, obwohl die Auswirkungen des Alkohols auf die Volksgesundheit nicht zu negieren waren.
Eine gewisse Einseitigkeit ist auch der Literaturbasis zu attestieren. Die Werke der Kritiker Mironovs fehlen in aller Regel. Dies gilt beispielsweise für renommierte Historiker wie seine Petersburger Kollegen B. V. Anan’ič oder B. I. Kolonickij; dafür finden in dem Zitierkartell die Parteigänger Mironovs wie beispielsweise S. V. Kulikov um so mehr Beachtung. Selektiv ist die Darstellung auch bei unterschiedlichsten Topoi, zu denen Mironov nicht oder nicht intensiv gearbeitet hat. Dies gilt für Ethnizität, Nationalismus, die Zivilgesellschaft, die (Binnen-)Migration, Emigration oder auch die Russische Revolution von 1917. Wegen rechtlicher, ethnischer und religiöser Diskriminierung, aus politischen, vor allem aber aus sozioökonomischen Gründen fand zwischen 1880 und 1914 ein millionenfacher Exodus aus dem Zarenreich statt. Dass diese Auswanderung pauperisierter „Überschussbevölkerung“ insbesondere aus dem Ansiedlungsrayon, aber auch aus den polnischen Gebiete des Imperiums mit der von Mironov konstatierten Mehrung des Wohlstands nicht harmoniert, ist evident. Aus einem weiteren Grund ist es zu bedauern, dass Mironov die bäuerliche Arbeitsmigration nicht intensiver untersucht hat. Sein Argument, dass Bauern mit ihrem otchodničestvo lediglich Einnahmen kompensieren wollten, die ihnen nach 1861 wegen der Verminderung ihres Landbesitzes verloren gegangen waren, greift zu kurz. Vielmehr erwiesen sich Teile der Bauernschaft als proaktiv und leisteten mit ihrer Mobilität und ihrem Willen, sich jenseits der Landwirtschaft zu verdingen, einen wichtigen Beitrag zur Modernisierung. Der vermeintliche Motor der gesellschaftlichen Modernisierung, der Staat, hingegen versuchte mit einer Vielzahl von Gesetzen oder dem Passzwang, die bäuerliche Mobilität einzuschränken. Diesen deutlichen Widerspruch thematisiert Mironov nicht (S. 598).
Am russischen Wesen soll die Welt genesen. So könnte das Fazit der von Mironov präsentierten optimistischen Sicht auf die russische Vergangenheit von der Petrinischen Epoche bis zur Revolution des Jahres 1917 lauten. Dabei verliert er allerdings aus den Augen, dass die Überschrift und sein thematischer roter Faden, Wohlstand und Revolution, eine contradictio in adiecto sind. Man mag zwar den roten Faden der Interpretation Mironovs nicht teilen, die Fülle verwertbaren Materials ist aber kaum zu übertreffen.
1B. N. Mironov / Z. V. Stepanov Istorik i matematika. (Matematičeskie metody v istoričkom issledovanii. Leningrad 1975; B. N. Mironov Vnutrennij rynok Rossii vo vtoroj polovine XVIII – pervoj polovine XIX v. Leningrad 1981; B. N. Mironov Chlebnye ceny v Rossii za dva stoletija (XVIII–XIX vv.) Leningrad 1985; B. N. Mironov Russkij gorod v 1740–1860-e gody: demografičeskoe, social’noe i ėkonomičeskoe razvitie. Leningrad 1990; B. N. Mironov Istorija v cifrach. Matematika v istoričeskich issledovanijach. Leningrad 1991.
2B. N. Mironov Social’naja istorija Rossii perioda Imperii (XVIII – načalo XX v.). Genezis ličnosti, demokratičeskoj sem’i, graždanskogo obščestva i pravovogo gosudarstva. V dvuch tomach. Sant-Peterburg 1999.
3vgl. Mironov Social’naja istorija, t. 1, S. 60.
4 Vgl. die plausible Kritik von Sergej Aleksandrovič Nefedov K diskussii ob urovne potreblenija v poreformennoj i predrevoljucionnoj Rossii, in: Rossijskaja Istorija (2011), 1, S. 73–85, bes. S. 76–77.
5 Michail Abramovič Davydov Vserossijskij rynok v konce XIX – načale XX vv. i železnodorožnaja statistika. Sankt-Peterburg 2010, S. 242, 252–253.
6Mironov Social’naja istorija, t. 2, S. 270.