Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 4, S. 671-672

Verfasst von: Imke Hansen

 

Hannah Maischein: Augenzeugenschaft, Visualität, Politik. Polnische Erinnerungen an die deutsche Judenvernichtung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015. 636 S., zahlr. Abb. = Schnittstellen Studien zum östlichen und südöstlichen Europa, 2. ISBN: 978-3-525-30074-9.

Bereits 1945 erschienen zwei Gedichte, welche die polnische Augenzeugenschaft der Shoah thematisieren: Die armen Christen blicken aufs Ghetto und Campo di Fiori von Czesław Miłosz. Darauf aufbauend brachte der Krakauer Literaturwissenschaftler Jan Błoński mit seinem Essay Die armen Polen blicken aufs Ghetto (Tygodnik Powszechny Nr. 2/1987) die Frage nach der retrospektiven Reflexion dieser Augenzeugenschaft zur Sprache. Sie ist seitdem in Polen immer wieder Gegenstand kontroverser und emotional aufgeladener Debatten.

Die Kulturwissenschaftlerin Hannah Maischein leistet nun einen Beitrag zur wissenschaftlichen Untersuchung dieses komplexen Diskurses, und erschließt dabei einen umfangreichen, bislang kaum beachteten Quellenbestand: visuelle Darstellungen, in denen sich „Polen rückblickend als Augenzeugen darstellen“ (S. 23) – von Denkmälern und Ausstellungen über Filme und Karikaturen bis zu Kunstwerken und Performances. In ihrer 2014 an der Münchner Universität verteidigten Dissertation untersucht sie, wie Polen die Augenzeugenschaft visuell repräsentieren, was für ein Selbstbild diese Repräsentationen widerspiegeln, und wie das Miterleben der Shoah dieses Selbstbild und damit die polnische nationale Identität beeinflusste. Sie konzentriert sich dabei auf drei Phasen, die auch den empirischen Teil der Arbeit strukturieren: 1944–1948, die Zeit der Etablierung des kommunistischen Systems, als Augenzeugenschaft vor allem in der Opposition zwischen nationalistischen und kommunistischen Geschichtsbildern verhandelt wurde; Mitte der fünfziger bis Mitte der siebziger Jahre, als zugunsten gemeinsamer Interessen kommunistischer und nationalistischen Akteure auf eine kritische Betrachtung der Augenzeugenschaft verzichtet wurde; und schließlich eine in den siebziger Jahren beginnende und bis heute andauernde Phase der kritischen Erörterung des Themas (S. 27). Als Korrektiv oder Vergleichsfolie benutzt Maischein den „westlichen“ Diskurs über die Shoah, weist aber gleichzeitig darauf hin, dass der europäische diskursive Konsens hinsichtlich der Repräsentation der Shoah nicht als Maßstab für den polnischen Umgang mit der nationalsozialistischen Verfolgung und Ermordung der Juden gelten kann (S. 157).

Maischein beginnt ihre Arbeit mit einer bemerkenswerten Schilderung einer Szene aus Andrzej Wajdas Spielfilm Pokolenie (Eine Generation), die das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden im besetzten Polen charakterisiert: Ein aus dem Ghetto geflohener Jude steht vor der Tür eines Bekannten und bittet um Hilfe – dieser zögert ob des Preises, den er möglicherweise für diesen altruistischen Akt zu zahlen hat. Die Szene illustriert zum einen, wie sehr die Separation der jüdischen Bevölkerung Früchte getragen hat. Der Jude scheint aus einer anderen Welt zu kommen, und eine nicht nur unerwartete, sondern geradezu geisterhafte Erscheinung zu sein, so Maischein. Die hier essentialisierte Alterität stellt einen Grundbaustein von Maischeins Untersuchungsansatz dar. Zum anderen ist die Szene eine Animation des Verhältnisses zwischen Juden und nichtjüdischen Polen, als „Machtverhältnis zwischen einem, der entscheiden kann, und einem, über den entschieden wird“ (S. 9). Denn auch wenn die gesamte Bevölkerung Polens von deutscher Besatzung und Unterdrückung betroffen war, hatten die ethnischen Polen zweifelsohne deutlich mehr Handlungsspielräume. Und diese sind signifikant, denn ohne Handlungsoptionen kann sich ein Individuum weder richtig noch falsch verhalten (S. 31).

Maischein bricht mit der theoretischen Konzeptionierung des „Augenzeugen“ aus der Hilbergschen Einteilung in Täter, Opfer und Zuschauer aus und beschreibt ein Phänomen, das Altruismus, Profit und Mittäterschaft enthalten kann, ohne dass das eine das andere zwangsläufig ausschließt. Sie führt eine interessante Unterscheidung zwischen „Anwohnern“ des Verbrechens, als Menschen, welche die historische Erfahrung der Shoah gemacht haben, ohne selbst betroffen gewesen zu sein, und Augenzeugen ein. Letztere werden nur durch das Zeugnisablegen zu solchen, der Begriff impliziert somit die retrospektive Erinnerung und Artikulation dieser Erfahrung. Die Bedeutung der Augenzeugen manifestiert sich also in einem sozialen und kommunikativen Prozess des Weitergebens, und mehr in der Gegenwart als in der Vergangenheit. Der Augenzeuge wird erst durch das Zeugnis-Ablegen konstruiert und ist mithin ein Produkt des Erinnerungsdiskurses (S. 23ff, 80).

Die polnische Augenzeugenschaft versteht Maischein als „Diskurs, in dem die nationale Selbstwahrnehmung strukturiert wird“ wobei nicht ganz klar ist, warum sie die Aussagekraft auf nationale Identität begrenzt (S. 59). Da Identität über die Abgrenzung zum Anderen konstruiert wird, bildet Alterität, wie bereits erwähnt, einen Schwerpunkt ihrer Überlegungen. Sie akzentuiert, dass Formulierungen von Alterität mehr über den Sprecher als über den Beschriebenen aussagen. „Da der andere nur vorgestellt wird, und nur in Bezug zu dem Selbst eine Bedeutung hat, kann der Andere nicht erfasst werden.“ Er ist mithin eine Projektionsfläche von realen und ersehnten Selbstbildern bzw. einer „desired identity“ – einer Wunschvorstellung vom Selbst. (S. 87) Gemeinsam mit Topographien und gestalterischen Darstellungsweisen der Augenzeugenschaft, die Maischein ebenfalls theoretisch problematisiert, bilden Selbstbild und Alterität Kategorien, nach denen sie polnische Augenzeugenschaft in den genannten Zeiträumen analysiert (S. 159).

Die Stärken der Arbeit liegen im Inhalt. Maischein beeindruckt mit ihrer Kenntnis der Forschungsliteratur zu Erinnerung, Alterität, Identität, und visual culture sowie zur polnischen Nachkriegsgeschichte, die sich durch ein breites und multidisziplinäres Spektrum an Verweisen auf Theorien und Konzepte äußert. Gut gelungen ist die Auswahl des empirischen Materials, dessen Umfang ebenfalls bemerkenswert ist. Maischeins Beobachtungen sind nachvollziehbar und innovativ. Sie gehen allerdings in der Länge des Textes, der mangelnden Struktur der Argumentation und der akademischen Sprache, die Zusammenhänge häufig eher im Vagen lässt statt sie zu präzisieren, etwas unter. Nicht nur der theoretische Rahmen ist deutlich überfrachtet, auch im empirischen Teil hätten Kürzungen, eine klarere Binnenstruktur der Unterkapitel und die Zusammenführung thematisch und logisch verwandter Aspekte der Arbeit mehr Übersichtlichkeit verschafft. Die Autorin hätte beispielsweise die politischen Bedingungen der Augenzeugenschaft und mithin polnische Innenpolitik und das polnisch-jüdische Verhältnis seit 1945 nicht so detailliert zu schildern brauchen, sondern es bei knappen Darstellungen und Verweisen auf die bisherige Literatur belassen können. Maischeins spannende und relevante Überlegungen wären in einem schlankeren, stärker strukturierten Text besser zur Geltung gekommen. Es ist daher zu hoffen, dass sie ihre umfangreichen Kenntnisse in pointierte Zeitschriftenaufsätze einfließen lässt – zumal das Thema angesichts der aktuellen geschichtspolitischen Situation in Polen wohl kaum an Relevanz verlieren wird.

Imke Hansen, Uppsala

Zitierweise: Imke Hansen über: Hannah Maischein: Augenzeugenschaft, Visualität, Politik. Polnische Erinnerungen an die deutsche Judenvernichtung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015. 636 S., zahlr. Abb. = Schnittstellen Studien zum östlichen und südöstlichen Europa, 2. ISBN: 978-3-525-30074-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hansen_Maischein_Augenzeugenschaft.html (Datum des Seitenbesuchs)

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