Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 66 (2018), 1, S. 179-181
Verfasst von: Fabian Lüscher
Aliaksandr Dalhouski: Tschernobyl in Belarus. Ökologische Krise und sozialer Kompromiss (1986–1996). Wiesbaden: Harrassowitz, 2015. 220 S., 16 Abb., 2 Graph., 2 Ktn. = Historische Belarus-Studien, 4. ISBN: 978-3-447-10415-9.
Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl gehört zweifellos zu den Schlüsselereignissen der späten Sowjetgeschichte. So vielfältig wie die Spekulationen über gesellschaftspolitische, ökologische, ökonomische oder gesundheitliche Langzeitfolgen sind, so reichhaltig präsentiert sich die Forschungslandschaft rund um den ersten atomaren Super-GAU der Geschichte. Aliaksandr Dalhouski nimmt in seiner Monographie, die aus einer 2012 an der Justus-Liebig-Universität Gießen verteidigten Dissertation hervorgegangen ist, mit Gomel’ und Mogilev die zwei weißrussischen Regionen in den Fokus, die 1986 am stärksten durch radioaktiven Fallout kontaminiert wurden. Mittels hermeneutischer Analysen von typisch sowjetischen Petitionen, den sogenannten Eingaben, fragt der Autor nach dem „Wandel in den Eingabeinhalten und -praktiken“ (S. 26). Davon ausgehend, dass „Loyalität als Gegenleistung für die Absicherung eines gewissen Wohlergehens“ (S. 30) in einem fiktiven Vertrag zwischen dem Staat und seinen Bürgern laufend neu ausgehandelt wird, will der Autor „den Inhalt des ‚Sozialkontraktes von Tschernobyl’, dessen Dynamik sowie die durch das Eingabewesen eröffneten Einflussmöglichkeiten der betroffenen Bevölkerung auf dessen Konditionen“ (S. 31) untersuchen. Dabei geht Dalhouski von der These aus, dass „im Laufe der Entwicklungen“ (S. 26) immer weniger vom offiziellen Weg über das Beschwerderecht Gebrauch gemacht wurde. Tschernobyl entwickelte sich stattdessen zu einem wichtigen Thema einer zunehmend öffentlich geführten und von politischen Parteien geprägten Debatte. Diese Entwicklung wurde allerdings nach 1991, „mit der Herausbildung des autoritären Regimes“ (S. 26), stark gebremst. Um dem Anspruch einer gesellschaftsgeschichtlichen Studie über einen Zeitraum von zehn Jahren gerecht zu werden, beschränkt sich Tschernobyl in Belarus deshalb nicht auf einen regionalen Zuschnitt, sondern vermittelt in vergleichsweise kurzen Kapiteln auch einen Eindruck davon, wie Tschernobyl als „nationale Tragödie“ Weißrusslands inszeniert, instrumentalisiert und – nach dem Zerfall der Sowjetunion – ignoriert wurde.
Die sorgfältig recherchierten Eingaben, Sammelpetitionen und Leserbriefe von Betroffenen, die ihre Fragen, Probleme und Bedürfnisse an lokale, nationale und teilweise unionsweite Behörden und Medien herantrugen, fügen sich, ergänzt durch eine auf Stichproben gestützte Medienanalyse, zu einem stabilen empirischen Fundament zusammen. Darauf baut Dalhouski seine Darstellung von Tendenzen in der Tschernobyl-Wahrnehmung der Betroffenen auf. Für die schwerpunktmäßig untersuchten ersten Jahre nach der Reaktorexplosion extrapoliert die Studie die Forderung nach infrastrukturellen Maßnahmen und – immer wieder – nach Ersatzwohnraum als Hauptanliegen der Beschwerdeführer. Aus dieser Darstellung wird einmal mehr ersichtlich, wie die nukleare Katastrophe zahlreiche ohnehin schon drückende Probleme in der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) potenzierte. Mit den nach Tschernobyl notwendig gewordenen Evakuierungen in großen Teilen der Bezirke Gomel’ und Mogilev vertiefte sich die längst bestehende Kluft zwischen dem Bedürfnis nach minimalem Lebensstandard, insbesondere im Wohnbereich, und der erlebten Realität in der BSSR. Die analysierten Eingaben lassen erahnen, wie sich die sowjetische Zerfallskrise Ende der 1980er-Jahre unter der schweren Last des Super-GAU von Tschernobyl immer mehr zuspitzte. Der Autor erörtert in einem Kapitel zu den letzten Jahren der Sowjetunion, dass dabei nicht zuletzt ein bewusster Aneignungsprozess der weißrussischen Nationalbewegung große Wirkmacht entfaltete. Die immer weiter ausgreifenden Risse im politischen System und die erstarkende nationalistische Weißrussische Volksfront (BNF), boten den Hintergrund, vor dem die Anliegen und Forderungen der Tschernobyl-Betroffenen zu Massenphänomenen anwuchsen. Von 1989 bis 1991 entwickelte die weißrussische Unabhängigkeitsbewegung aus ökologischen, medizinischen und sozialen Katastrophenfolgen ein tragfähiges argumentatives Instrumentarium gegen einen Verbleib der BSSR in der Sowjetunion. Hierbei kam dem Reaktorunfall enorme symbolische Bedeutung zu; befand sich doch der Unfallherd außerhalb der Republiksgrenze. Leicht ließ sich Tschernobyl als exogene Tragödie deuten, an der die Sowjetunion und insbesondere die Moskauer Zentrale Schuld trug, während die weißrussische Bevölkerung am meisten darunter litt.
Ebenso schnell, wie Tschernobyl als massenwirksames Argument für die weißrussische Unabhängigkeit auftauchte, wurde die Diskussion seiner Folgen nach 1991 von anderen Problemen verdrängt. Dieser Prozess der erneuten, zumindest teilweisen Verdrängung von Tschernobyl bleibt in der Studie jedoch unterbeleuchtet. Während die Aushandlung eines „sozialen Kompromisses“ für die unmittelbaren Folgejahre der Reaktorkatastrophe sehr detailliert beschrieben, nachvollziehbar analysiert und hinreichend empirisch unterfüttert wird, bleiben die Befunde für die neunziger Jahre hypothetisch.
Die Folgerungen, die Dalhouski zum ersten Jahrfünft der gesellschaftlichen Tschernobyl-Rezeption zieht, sind schlüssig: Der Autor bezeichnet die BSSR in den unmittelbaren Folgejahren des Super-GAU als „eine Republik der benachteiligten Beschwerdeführer“ (S. 191) und betont, dass das sowjetische Eingabesystem überwiegend dazu genutzt wurde, materielle Kompensationen für Schäden zu fordern, die sich aus der radioaktiven Kontamination und aus Maßnahmen zu deren Handhabung ergeben hatten. Ab 1989 macht Dalhouski nicht zuletzt die „Demokratisierung des Informationsraums“ (S. 193) im Zuge von Glasnost’ und Perestrojka als Bedingung für eine breitere und viel stärker gesellschaftspolitisch aufgeladene Tschernobyl-Diskussion aus.
Insgesamt hinterlässt Tschernobyl in Belarus einen ambivalenten Eindruck. Einerseits erschließt die Studie dank adäquater Quellenauswahl und -arbeit ein überzeugendes und anschauliches Bild der Kommunikation zwischen Betroffenen und politischen Behörden in den fünf Jahren nach der Katastrophe. Die ausgewerteten Eingaben bieten sehr spannende und lesenswerte Einblicke in Sorgen, Ängste und Bedürfnisse, die Tschernobyl in Teilen der weißrussischen Bevölkerung ausgelöst oder katalysiert hat. Andererseits fehlt der Studie eine ebenso detaillierte Untersuchung von ähnlichen Prozessen in den ersten Jahren der weißrussischen Unabhängigkeit. Durch die resümierenden Absätze, die jedes Kapitel abschließen, und das als Zusammenfassung organisierte Schlusskapitel ergeben sich außerdem einige inhaltliche Redundanzen. Schließlich stellt sich die Frage, ob die oberflächlich erörterte Sozialkontrakt-Theorie dem Gegenstand tatsächlich Erkenntnisse abgewinnt, die über die quellenimmanente Analyse hinausgehen. Da der Autor mit dem Eingabewesen zweifellos einen spannenden und wichtigen Aspekt der Tschernobyl-Geschichte in den Blick genommen hat, sollte die vorliegende Studie nicht als abschließend betrachtet werden, sondern vielmehr zu weiterführender Forschung anregen. Trotz der skizzierten Mängel, liegt mit Tschernobyl in Belarus eine sinnvolle und anregende Ergänzung zur bisherigen Tschernobyl-Historiographie vor. Über das weißrussische Beschwerdewesen macht die Studie Akteure und Aspekte rund um den Umgang mit der Katastrophe sichtbar, die zweifellos große Aufmerksamkeit verdient haben. Die vorliegende Arbeit trägt damit dazu bei, einige der weiterhin zahlreichen Leerstellen in der facettenreichen Geschichte der Reaktorexplosion und seiner Folgen zu füllen.
Zitierweise: Fabian Lüscher über: Aliaksandr Dalhouski: Tschernobyl in Belarus. Ökologische Krise und sozialer Kompromiss (1986–1996). Wiesbaden: Harrassowitz, 2015. 220 S., 16 Abb., 2 Graph., 2 Ktn. = Historische Belarus-Studien, 4. ISBN: 978-3-447-10415-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Luescher_Dalhouski_Tschernobyl_in_Belarus.html (Datum des Seitenbesuchs)
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