Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 61 (2013), 2, S. 270-275
Verfasst von: Susanne Schattenberg
Gericht über das Reich der Toten
Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. Unter Mitarbeit von Annette Weinke und Andrea Wiegeshoff. München: Blessing, 2010. 879 S. ISBN: 978-3-89667-430-2.
Der vorliegende Band beginnt mit drei biographischen Vignetten: Franz Krapf (geb. 1911) trat als SS- und NSDAP-Mitglied 1938 in den Auswärtigen Dienst, wirkte während des Krieges als Mitarbeiter des Sicherheitsdiensts an der Botschaft in Tokio und kehrte 1951 mit der Neugründung des Auswärtigen Dienstes ebendorthin zurück. Fritz Kolbe (geb. 1900) diente seit 1925 dem Auswärtigen Amt, weigerte sich in die NSDAP einzutreten, kooperierte seit 1943 mit dem amerikanischen Geheimdienst und wurde in der Bundesrepublik als „Vaterlandsverräter“ nicht wieder in den Dienst aufgenommen. Franz Nüßlein (geb. 1909), NSDAP-Mitglied seit 1937, war als Oberstaatsanwalt im Reichsprotektorat Böhmen und Mähren für die Bestätigung zahlreicher Todesurteile verantwortlich. Als „nicht amnestierter Kriegsverbrecher“ 1955 in die Bundesrepublik abgeschoben, gelang ihm im selben Jahr der Eintritt in den Auswärtigen Dienst (S. 9–10). Die Kritik am ehrenden Nachruf auf letzteren veranlasste Außenminister Joschka Fischer 2003 anzuweisen, ehemaligen NSDAP-Mitgliedern künftig keine solche Ehre mehr zu erweisen. Als daraufhin der hier zuerst genannte Krapf bei seinem Tod 2004 ungeehrt blieb, protestierten 76 Diplomaten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit einer privaten Todesanzeige. Fischer setzte in Reaktion auf diese Provokation 2005 eine Historikerkommission zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amts ein, deren Bericht hier auf rund 880 Seiten vorliegt.
Der SS-Diplomat, der vor und nach 1945 im Außenamt Karriere machte, der in Westdeutschland stigmatisierte Widerstandskämpfer, der erst 2004 Anerkennung fand, und der Kriegsverbrecher, der nach 1955 im AA Unterschlupf fand – dies sind laut Bericht drei exemplarische Karrieren, die Geist und Belegschaft des Außenamtes charakterisieren (S. 21). Solche Schilderungen vieler einzelner Kurzbiographien dominieren die gesamte Studie, die den Anspruch erhebt, „sowohl individuelles Verhalten zu erklären als auch die strukturellen Rahmenbedingungen und ihre Dynamik zu berücksichtigen“ (S. 14). Die Summe der vielen einzelnen Karrieren soll das Gesamte der Handlungen erklären, um der Frage nachzugehen: „Welche Rolle spielte der Auswärtige Dienst im nationalsozialistischen Herrschaftssystem und Terrorapparat?“ (S. 13) Der Zeit bis 1945 ist die erste Hälfte des Bandes mit 300 Seiten gewidmet, während der zweite, mit 500 Seiten wesentlich umfangreichere Teil fragt, wie es nicht nur gelingen konnte, dass Karrieren nahtlos in der Bundesrepublik weiterliefen, sondern auch der Mythos vom Außenamt als Hort des Widerstands und Wiege des 20. Juli erfolgreich etabliert wurde.
Ganz grob folgt der Bericht drei Argumentationslinien: (1) Die Diplomaten im Außenamt waren nicht nur stets über Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden bestens informiert, sie waren auch aktiv daran beteiligt, mehr noch: Sie ergriffen immer wieder selbst die Initiative, um ihrer Institution eine aktive Rolle zu verschaffen und nicht marginalisiert zu werden. (2) Von einem flächendeckenden Widerstand der Diplomaten kann keine Rede sein; die wenigen Mitverschwörer des 20. Juli wie Ulrich von Hassell, Adam von Trott zu Solz oder Friedrich-Werner von der Schulenburg waren isolierte Einzelfälle. (3) Die Unterteilung in „alte“, über den Verdacht der „Kollaboration“ erhabene, „sauber“ gebliebene Diplomaten einerseits und „junge“ NSDAP- und SS-Angehörige, die im Außenamt zu Mördern und Kriegsverbrechern wurden, sei eine Mär, die gezielt und mit großem Erfolg im Rahmen des „Wilhelmstraßen-Prozesses“ 1949 v. a. im Ringen um den Freispruch für Staatssekretär Ernst von Weizsäcker in die Welt gesetzt wurde und zum Gründungsmythos des westdeutschen Außendiensts avancierte. Die These von der Kontinuität steht damit stark im Vordergrund: Weder 1933 habe es mit Hitlers Machtübernahme eine Austrittswelle von Diplomaten gegeben, noch markiere die Ablösung des Außenministers Constantin von Neurath, eines Berufsdiplomaten, durch den Quereinsteiger und Hitler-Epigonen Joachim von Ribbentrop Anfang 1938 einen Bruch; weder habe es unter Adenauer einen personellen Neuanfang gegeben, noch habe sich Willy Brandt als Außenminister 1966 zu einer Aufarbeitung der „braunen Vergangenheit“ seines Ministeriums durchringen können.
Nun könnte man argumentieren, dass dies keine Geschichte der Diplomaten, sondern des Außenamts, also einer Institution, sei. Zum Amt aber wird konsequent die These vertreten, dass Motiv und Antrieb, Teil der Vernichtungsmaschinerie zu werden, die drohende Marginalisierung durch andere Institutionen war. Dies ist allerdings eine apodiktische Behauptung, die nicht weiter überprüft wird und keinen Raum für andere Deutungen bzw. Motive lässt. Wir haben es mit einer funktionalistischen Argumentation zu tun, in der die Subjekte der Ratio der Institution unterworfen werden, ohne dass ihre Beweggründe geprüft würden. Es bleibt kein Platz für Nationalismus und Antisemitismus, für Karrierebestrebungen oder Eitelkeiten, für Rationalisierungen oder die Aneignung von neuen ‚Wahrheiten‘, wenn ein Primat der Institutionenlogik postuliert wird. Um nicht falsch verstanden zu werden: Vermisst wird nicht die Perspektive eines „autonomen Subjekts“, vermisst werden sozioökonomische, kulturelle oder auch diskursive Ableitungen und Einbettungen menschlichen Handelns. Aber selbst wenn wir bei einer reinen Institutionengeschichte bleiben, fehlt auch hier die Kontextualisierung und die Frage nach dem ‚Verhalten‘ anderer, von der Marginalisierung betroffener Ämter in der vielschichtigen, sich ständig verschiebenden Ämterhierarchie, die Hitlers Manipulationen unterworfen war. Eine Einordnung in das Institutionengeflecht des NS-Staates wird nicht vorgenommen, die Spezifik totalitärer Herrschaft und Machtpolitik nicht erläutert. Unbehandelt bleibt auch die Frage, inwieweit eine Institution einen ‚Willen‘ entwickeln kann, wie eine „raison d’institution“ entsteht, welcher Akteure und welcher Umstände es dafür bedarf. Letztlich wird weder ein struktur- oder institutionengeschichtliches Instrumentarium eingesetzt, um ein erhellendes Bild des Amtes als Teil der NS-Verwaltung zu erhalten, noch kommen Hermeneutik oder Diskursanalyse zum Einsatz, um die diplomatische Elite und ihren Wandel im NS-Staat als sozio-kulturelle Gruppe umfassend zu skizzieren. Die „Herausforderung“ (S. 14), individuelles Verhalten und strukturelle Rahmenbedingungen zu verknüpfen, wurde nicht bewältigt.
Es wäre nur zu wünschenswert, die nächste solche Auftragsstudie würde es unternehmen, nicht nur die Öffentlichkeit über historische Verbrechen und Mythenbildung aufzuklären, sondern dem breiten Publikum auch zu vermitteln, dass Geschichtswissenschaft immer der Versuch ist, Menschen in ihren Handlungen zu verstehen.
Zitierweise: Susanne Schattenberg über: Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. Unter Mitarbeit von Annette Weinke und Andrea Wiegeshoff. München: Blessing, 2010. 879 S. ISBN: 978-3-89667-430-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schattenberg_Conze_Das_Amt_und_die_Vergangenheit.html (Datum des Seitenbesuchs)
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1Christopher Browning Das Ende aller Vertuschung, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung (10.12.2010).
2Michael Mayer Rezension zu: Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit, in: sehepunkte – Rezensionsjournal für die Geschichtswissenschaften 11 (2011) 4, S. 2.
3Richard J. Evans The German Foreign Office and the Nazi Past, in: Neue Politische Literatur 56 (2011), S. 165–183, hier S. 175.
4Johannes Hürter Das Auswärtige Amt, die NS-Diktatur und der Holocaust. Kritische Bemerkungen zu einem Kommissionsbericht, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (2011) 2, S. 167–192, hier S. 176.
5Stefan Troebst Rezension zu: Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit, in: H-Soz-u-Kult (15.02.2011), http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-1-108 (29.5.2013).
6Evans The German Foreign Office, S. 173.
7Bernard Wiaderny Rezension zu Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 61 (2012) 1, S. 118–121, hier S. 119; Troebst Das Amt und die Vergangenheit.
8Rainer Blasius Schnellbrief und Braunbuch. Die „Unabhängige Historikerkommission“ des Auswärtigen Amts verletzt wissenschaftliche Standards und pflegt Vorurteile, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (13.01.2011); Hürter Das Auswärtige Amt, S. 183.
9Evans The German Foreign Office, S. 183.
10Hans Mommsen Das ganze Ausmaß der Verstrickung, in: Frankfurter Rundschau (16.11.2010).
11Hürter Das Auswärtige Amt, S. 171–172; Mayer Das Amt; Wiaderny Das Amt, S. 120.
12Evans The German Foreign Office, S. 182.
13Browning Das Ende aller Vertuschung.