Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 3, S. 463-465

Verfasst von: Natali Stegmann

 

Zukunftsvorstellungen und staatliche Planung im Sozialismus. Die Tschechoslowakei im ostmitteleuropäischen Kontext 1945–1989. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 22. bis 25. November 2007. Hrsg. von Martin Schulze Wessel und Christiane Brenner. München: Oldenbourg, 2010. VI, 344 S., 20 Abb. = Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum, 30. ISBN: 978-3-486-59640-3.

Der Sammelband widmet sich mit Zukunftsvorstellungen und staatlicher Planung  einem Thema, das für das Selbstverständnis und die Ausgestaltung des real existierenden Sozialismus von zentraler Bedeutung war. Dabei unternehmen die Herausgeber den ambitionierten Versuch, die Bezüge zwischen der Sowjetunion als Modell und  übergeordneter Macht einerseits und dem tschechoslowakischen Staatssozialismus andererseits nachzuzeichnen. Wie Martin Schulze Wessel mit Verweis auf den Forschungsstand schreibt, hat das Unternehmen einen „explorativen Charakter“ (S. 3). Das heißt nicht weniger, als dass hier ein neues Forschungsfeld erschlossen und beschrieben werden soll. Welchen Prämissen folgt nun der Band dabei und anhand welcher Beispiele führt er uns das Thema vor?

Das Unternehmen beruht auf zwei miteinander verschränkten Vorannahmen: Erstens waren Zukunftsvorstellungen und staatliche Planung untrennbar miteinander verbunden; der Plan kann demnach als Beleg für die Zukunftserwartungen des Regimes gelten. Die zweite Annahme lautet, dass die Impulse für die Zukunftsgestaltung in der Tschechoslowakei  überwiegend von der Sowjetunion ausgingen. Dementsprechend wird das sowjetische Modell auf der Makroebene dargestellt, während die Beispiele aus der Tschechoslowakei teilweise sehr spezifischen Themen gewidmet sind. Neben der Einleitung von Schulze Wessel widmen sich drei weitere programmatische Beiträge dem Themenkomplex Zukunftsvorstellungen und Sozialismus. So schreibt Stefan Plaggenborg über „Verstetigte Gegenwart. Das Zeitverständnis im real existierenden Sozialismus“, Gereon Uerz über „Zukunftsvorstellungen als Elemente der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit. Anthropologie – Geschichte – Frühsozialisten“ und Bendřich Loewenstein über „Revolution und Utopie. Überlegungen an zwei historischen Beispielen“. Plaggenborg beschreibt in Anlehnung an Koselleck den Sozialismus als einen Teil der Moderne, eben auch und gerade im Bezug auf seine Vorstellungen von Zeitlichkeit. Zugleich macht er den Bruch der Entstalinisierung sehr deutlich und unterstreicht die Tatsache, dass mit der Erfindung der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ die utopische Zielvorstellung des Kommunismus verblasste und sich die sozialistischen Regimes zunehmend an dem messen lassen wollten und mussten, was sie in der Gegenwart vorzuweisen hatten. Uerz beschreibt zunächst das Planen als eine Eigenschaft der menschlichen Spezies, um sodann die Entwicklung von Zukunftsvorstellungen seit der Aufklärung darzustellen und schließlich mit den Ideen der Frühsozialisten und der marxistischen Kritik daran zu enden. Für das Verständnis des real existierenden Sozialismus sind diese Ausführungen von geringem Wert. Loewenstein konzentriert sich auf die utopischen Momente und deren destruktives Potenzial in der frühen Sowjetunion und in der frühen tschechoslowakischen Volksrepublik. Dabei zeichnet er differenziert die Etablierung stalinistischer Herrschaftsmethoden in ihrer tschechoslowakischen Ausprägung nach.

Während diese einführenden Beiträge eher einen allgemein erklärenden Anspruch verfolgen, dienen die weiteren als illustrative Beispiele aus der Forschungspraxis. Diese sind in vier Teilbereiche untergliedert. Im Teil „Der Neue Mensch“ schreiben Martin Franc über die utopischen Vorstellungen von der Formbarkeit eines „neuen Menschen“ beim Biologen Ivan Málek, Matěj Spurný über die Zielvorstellungen, die sich in den fünfziger Jahren auf die ethnischen Minderheiten in den tschechischen Grenzgebieten richteten, und Celia Donert über die Planungsziele, welche die Roma betrafen, und hier insbesondere über die Geburtenkontrolle in der sozialistischen Tschechoslowakei. Im Teil „Großprojekte des Sozialismus“ geht es in einem Beitrag von Anna Bischof zunächst um den Uranabbau in Jáchymov; Ulrich Best schreibt über Gaspipelineprojekte des RGW und Ivan Jakubec über Verkehrsinfrastruktur (Bahn- und Straßenbau) nach 1945. Schließlich geht es im dritten Teil um „Mobilisierung durch Planung“ – und zwar schreiben Jaromír Balcar und Jaroslav Kučera über Wirtschaftsplanung, Jiří Knapík über kulturellen Aufbau auf dem Land, Blanka Koffer über den Plan in den Gesellschaftswissenschaften (in der DDR und in der Tschechoslowakei) und Xavier Gelmiche über Zukunftsbilder tschechoslowakischer sozialistischer Aufbauromane. Mit dem Teil „Planung nach der utopischen Hochphase“ schließt der Band. Hier finden wir einen Beitrag von Michal Pullmann über sowjetische und tschechoslowakische Wirtschaftsdebatten der achtziger Jahre, einen von Christina Domnitz über Europapublizistik im späten Staatssozialismus und einen von Helena Srubar über Zukunftsvorstellungen in der Science-Fiction-Serie „Náštevníci“ (Die Besucher).

Wie passen nun die einleitenden Beiträge und die thematisch illustrierenden zusammen? All jene Beiträge, die am konkreten Beispiel arbeiten, basieren auf laufenden Forschungsarbeiten und sind daher für sich genommen informativ. Dabei sind einige, wie jener über die Verkehrsinfrastruktur, eher beschreibend und bieten für das übergeordnete Thema wenig mehr Einsicht als die facettenreiche Beschreibung einer (bekannterweise nicht funktionierenden) Planwirtschaft. Andere wie jener über die Wirtschaftsdebatten operieren auf einem höheren Reflexionsniveau und zeigen neue Perspektiven auf. Insgesamt erweist sich die These, dass die Entwicklung in der Sowjetunion für die Tschechoslowakei in fast jeder Hinsicht prägend war, als richtig – solange wir uns auf der Ebene von Propaganda und staatlicher Lenkung bewegen. Dagegen weisen gerade die konkreten Ausführungen darauf hin, dass eine klarere analytische Unterscheidung zwischen Zukunftsvorstellungen und Planung dem Unternehmen gut getan hätte. Dies lässt sich weniger an dem festmachen, was in den Beiträgen behandelt wird, als vielmehr an jenen Phänomenen, die eben nicht im Blickfeld der Untersuchung stehen. Denn wo sozialistische Zukunftserwartungen und Zielvorgaben in der Planung gedanklich nicht getrennt werden, geraten die utopischen Elemente ebenso in den Hintergrund wie die nicht-konformen Zukunftsvorstellungen. Die Darstellung droht sich in einer Beschreibung der Kuriositäten und Absurditäten des Sozialismus zu erschöpfen, die im Grund wiederholt, was die Sozialismusforschung seinerzeit schon einmal geleistet hat. Dies hängt ursächlich damit zusammen, dass die Fixierung auf den Plan eine Fixierung auf den Staat impliziert. Den Bruch jedoch, der mit der Rede Chruščevs auf dem 20. Parteitag eingeleitet wurde und den Plaggenborg so genau ausleuchtet, exemplifizieren die Beiträge zur Tschechoslowakei eben nicht. Es wird weder der Prager Frühling behandelt noch werden politische, soziale und kulturelle Zielvorstellungen der 1970er Jahre dargestellt; jenseits der professionellen Grenzen wird keine Unterscheidung in unterschiedliche Milieus vorgenommen. Mit der Fixierung auf den Plan bleibt das Unterfangen allzu leicht im Technokratischen verhaftet. Der Band erschließt somit ein neues Forschungsfeld und liefert dafür gute Ansätze. Zugleich verweist er aber auch auf einen erheblichen Klärungsbedarf: Welche Zukunftsvorstellung hatten unterschiedliche Bevölkerungsgruppen im Privaten wie im Politischen? Wie verhielten sich diese zur sozialistischen Utopie und zur politischen Stagnation? Und welche Rolle spielte dabei die Planwirtschaft tatsächlich? Welche Alternativen zur staatlichen Lenkung wurden formuliert? Diese Fragen drängen sich bei der Lektüre des vorgestellten Sammelbandes geradezu auf.

Natali Stegmann, Regensburg

Zitierweise: Natali Stegmann über: Zukunftsvorstellungen und staatliche Planung im Sozialismus. Die Tschechoslowakei im ostmitteleuropäischen Kontext 1945–1989. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 22. bis 25. November 2007. Hrsg. von Martin Schulze Wessel und Christiane Brenner. München: Oldenbourg, 2010. VI, 344 S., 20 Abb. = Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum, 30. ISBN: 978-3-486-59640-3, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Stegmann_Zukunftsvorstellungen_und_staatliche_Planung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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