Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Eva Mäder

 

Pamjat i vremja. Almanach. Vyp. 1. Sost. Vadim Akopjan. Minsk: Vydav. Medisont, 2014. 415 S., 40 Abb., 1 Kte. ISBN: 978-985-7085-23-1.

Erinnerung und Zeit“ – so lautet der Titel einer neuen Reihe mit dem Ziel, Zeitzeugenberichte zum Holocaust in Belarus zu verschriftlichen und zu publizieren. Herausgegeben wird die Reihe vom Leiter des jüdischen Museums in Minsk, Vadim Akopjan, sowie dem Chefredaktor der Zeitschrift Mišpocha, Arkadij Šulman. Der erste Band enthält 15 Texte von Juden vorwiegend aus Minsk, die 1941 zwischen 4 und 27 Jahre alt waren. Die Herausgeber haben die Texte durch Titelseiten mit noch wenig bekannten Bildern thematisch geordnet. Die erste Gruppe behandelt den Kriegsbeginn und enthält zwei gegensätzliche Texte. Der damals zehnjährige Lev Stelman beschreibt, basierend auf seinen Erinnerungen und Gesprächen mit Familienmitgliedern, seinen Weg in die Evakuation. Da die Sommerferien bereits begonnen hatten, befand sich sein Bruder wie viele andere Kinder in einem Lager außerhalb der Stadt. Nach der Nachricht vom deutschen Einmarsch am 22. Juni 1941 suchten die Eltern im ausbrechenden Chaos zuerst ihre Kinder, bevor sie an Flucht dachten. Da war es dafür oft bereits zu spät – die Straßen waren durch die flüchtende Rote Armee und die vorrückende Wehrmacht versperrt. Diese zwang die Zivilbevölkerung, an ihren Wohnort zurückzukehren. Weil ein Onkel Stelmans für das ZK der belarussischen Gebietspartei arbeitete und über einen Lastwagen und Chauffeur verfügte, gelangte die Großfamilie trotz verspätetem Aufbruch noch zur Eisenbahn und konnte einen nach Osten fahrenden Zug besteigen, der auch recht bald schon den Schutz versprechenden Status als Flüchtlingszug erhielt. Dennoch wurde er jedoch mehrmals bombardiert, worauf die Passagiere in den Wald flüchteten und die Familie auseinander gerissen wurde. Nur dank viel Glück fanden alle wieder zusammen und gelangten nach 12-tägiger Odyssee schließlich in die autonome tschuwaschische Republik.

Auf die Perspektive des Kindes folgt diejenige des Schriftstellers Gennadij Švedik. Er hatte bis zu Kriegsbeginn mehrere Bücher publiziert, war eine anerkannte Autorität und sollte daher nach seinem freiwilligen Eintritt in die Rote Armee eine Führungsfunktion übernehmen. Schließlich fehlte ihm aber das nötige mathematische Vorstellungsvermögen, um dem Offizierskurs folgen zu können, und er starb als einfacher Maschinengewehrschütze bei einem seiner ersten Einsätze an der Front. Erhalten blieben die Briefe an seine Frau, die hier publiziert werden. Es handelt sich dabei um den einzigen Text, der nicht aus der Retrospektive verfasst ist. Vieldeutige Formulierungen und seine Bitte, alles weitere beim Boten persönlich zu erfragen, weisen darauf hin, dass Švedik mit dem Gedanken an die Zensur geschrieben hat.

Der zweite Teil besteht aus den Erinnerungen von Iosif Grajfer, Roman Gurevič, Michail Nordštejn, Leja Gutkovič, Leonid Smilovickij, Sima Margolina und Jakov Krav­čin­skij und schildert den Überlebenskampf und das Sterben im Ghetto. Dieses wurde am 19. Juli, drei Wochen nach der deutschen Besetzung von Minsk am 26. Juni 1941, eingerichtet. Für die jüdischen Bewohner, die sich zuvor in manchen Fällen nicht als Juden gefühlt hatten und die sich aufgrund von sowjetischen Kriegsfilmen und dem Stalinkult eine solch schnelle Besetzung nicht hatte vorstellen können, war der erzwungene Umzug ins Ghetto ein Schock. Dieses war mit insgesamt rund 100.000 Bewohnern das größte in der ehemaligen Sowjetunion. Angelegt zwischen sieben Straßen im Nordosten von Minsk, war es bis an die Grenzen gefüllt. Vielköpfige Familien wohnten in kleinen Räumen, nur dank baulichen Improvisationen konnten alle gleichzeitig schlafen. Neben dieser Enge kommen die sechs großen und zahlreichen kleineren Pogrome in allen Berichten vor. Mit diesen verbinden die Erzählenden die vielleicht traumatischsten Erinnerungen, mussten sie doch zusehen, wie nach und nach ihre engsten Angehörigen erschossen oder zur Vergasung abgeholt wurden. Das dritte gemeinsame Thema ist der qualvolle Hunger, an dem alle litten. Essen erhielten nur Ghettobewohner, die arbeiteten. Kinder, alte Menschen, Schwache, die nicht (mehr) arbeiten konnten oder für die es keine Arbeit gab, wurden von den Verwandten ernährt, die von früh bis spät außerhalb des Ghettos Schwerarbeit leisteten und dafür Wassersuppe erhielten. Der Tausch von Wertsachen gegen Nahrung durch den Stacheldrahtzaun des Ghettos war zwar verboten, wurde aus Not aber dennoch praktiziert. Spätestens nach dem ersten Winter blieb den meisten aber nichts mehr zum Tauschen. Die sieben Autoren waren 1941 zwischen vier und 14 Jahren alt und damit noch klein genug, um durch den Ghettozaun hindurchkriechen zu können. Sie nahmen die Gefahr auf sich und bettelten im „russischen“ Teil von Minsk um Essen. Nelly Gerbovickaja hatte dabei enormes Glück – sie wurde dank der Hilfe einer mutigen Passantin und eines Stadtbeamten von einem Kinderheim aufgenommen. Den andern Erzählern blieb nur die Rückkehr ins Ghetto. Als Flüchtlinge setzten sie nicht nur ihr eigenes Leben aufs Spiel, sondern auch dasjenige der Familien, die ihnen halfen.

Der besondere Wert von Sima Margolinas Text besteht darin, dass sie das Ghetto der Provinzstadt Usda beschreibt und zeigt, dass die Juden außerhalb von Minsk mit ähnlichen Mitteln getötet wurden wie in der Hauptstadt. Margolinas Familie flüchtete nach einem Pogrom mit großer Not nach Minsk, nur um hier erneut im Ghetto zu landen. Gerettet wurde sie schließlich, weil sie wiederholt bei Arbeitseinsätzen davonschlich, bis sie schließlich von einer Bäuerin als Jüdin erkannt und mit ins Dorf genommen wurde. Hier lebte sie bis zur Befreiung bei Bauern und beschreibt die schwierigen Lebensumstände und die harte Arbeit auf dem Dorf, aber auch, wie es ihr mühsam gelang, die landwirtschaftlichen Tätigkeiten zu lernen, und schließlich von den Bauern als eine der ihren akzeptiert wurde.

Der dritte Abschnitt enthält einen Text von Sofja Sadovskaja und schildert das scheinbar Unmögliche: Widerstandskampf direkt aus dem Ghetto. Mit der Verwaltung des Ghettos waren Juden beauftragt, welche Sadovskaja anfänglich insgesamt für Kollaborateure hielt. Sie erfuhr aber, wie ein Mitglied bis zu seiner Verhaftung im Juli 1942 heimlich für die Partisanen arbeitete. Er sorgte dafür, dass die Karteikarten geflüchteter Juden verschwanden oder die Ärzte deren Tod bescheinigten und damit die Suche nach den Verschwundenen verhinderten. Das Untergrundkomitee bestand aus Juden, die versuchten, Waffen zu stehlen, Texte zu drucken und vor allem Ghettobewohnern zu helfen, zu den Partisanen zu gelangen. Sadovskaja erwarb sich unbewusst das Vertrauen dieses in strengster Geheimhaltung operierenden Grüppchens, als sie beim Entladen von Munitionskisten Patronen entwendete und dabei von „den Eigenen“ beobachtet wurde. Neben den Briefen Švediks ist dieser Beitrag als einziger noch zur Sowjetzeit entstanden, was an der ideologisch gefärbten Betonung des belarussisch-jüdischen Zusammenhalts deutlich wird. Tatsächlich haben außerordentlich viele Belarussen unter Lebensgefahr Juden geholfen, im Buch wird aber auch beschrieben, wie Belarussen Juden verrieten, übel beschimpften oder nach 1945 diskriminierten.

Im vierten Teil erzählen Michail Trejster, Pavel Rubinčik und Savelij Kaplinskij, wie ihnen die Flucht zu den Partisanen gelang. Die wenigen Ghettobewohner, die fähig waren, Leidensgenossen zu den Partisanen zu führen, wollten in erster Linie Kampffähige mit Waffen. Unter den rund 23.000 Partisanen, die 1942 in Belarus operierten, nahmen nur wenige Gruppen Frauen und Kinder auf. Flüchtlinge riskierten, beim Ausbruch aus dem Ghetto und beim Marsch in die Wälder be- und erschossen zu werden, oder sie starben danach bei Gefechten. Besonders bitter waren die zahlreichen Verluste beim Rückzug der Deutschen, unmittelbar vor der Befreiung durch die Rote Armee Anfang Juli 1944. Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder schätzt in seinem Werk Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin, dass von rund 10.000 Juden, die aus Minsk zu den Partisanen gelangten, nur die Hälfte überlebte.

Leonid Rubinštein und Naum Chejfes beschreiben im letzten Teil das berüchtigte Konzentrationslager an der Širokaja-Straße. Dieses befand sich in einem ehemaligen Pferdestall einer Kavallerieeinheit und wurde vom SS-Offizier Gorodecki geleitet, der bei jedem Lagerbesuch routinemäßig Gefangene für Belanglosigkeiten erschießen ließ. In der Regel wurden die Inhaftierten nach dem Ende ihres Arbeitseinsatzes in das am Stadtrand von Minsk gelegene Vernichtungslager Malyj Trostinec gebracht, vergast oder erschossen. Einige gelangten aber durch Zufall oder weil sie bei der Auslese noch arbeitsfähig genug waren, zuerst in Konzentrationslager in Polen, dann in Deutschland. Galina Davydova hatte einen noch längeren Transport zu erdulden und wurde beim Festungsbau in Cherbourg eingesetzt. Obwohl alle drei ohne eigenes Zutun in Gefangenschaft geraten waren, galten sie nach der Rückkehr in die Sowjetunion als Landesverräter. Leonid Rubinštein berichtet, wie er nach seiner Befreiung durch die US-Armee durchaus vor der Rückkehr gewarnt wurde. Doch der nun 18-Jährige hatte keine Angehörigen und Verwandten mehr und glaubte, dass man nur die Heimat nicht verlieren dürfe. Bestätigt wurde er dabei durch ein Lied mit genau dieser Botschaft, das er im sowjetischen Repatriierungslager immer wieder singen musste.

Von den rund 700.000 jüdischen Menschen, die 1941 in Belarus gelebt haben, wurden während des Zweiten Weltkriegs rund 500.000 getötet. Wer diesen Sammelband liest, lernt 15 Geschichten kennen, die dem nur schwer vorstellbaren Leid ein Gesicht verleihen. Man erfährt, wie sie ihrer elementarsten Rechte beraubt, wie ihre Würde missachtet wurde, wie ihre Körper und Seelen durch Hunger, Zwangsarbeit und unmenschliche Lebensbedingungen geschändet wurden. „Was ist Holocaust?“, fragt Josif Graifer in seinem Beitrag und antwortet: „der Zustand des Menschen, der ohne Schuld und ohne Hoffnung auf Erbarmen zum Tode verurteilt ist“. Dank diesem Buch haben die zahlreichen Menschen, über deren Tod hier berichtet wird und die in Massengräbern bestattet wurden, wenigstens posthum ein Denkmal erhalten.

Eva Mäder, Winterthur

Zitierweise: Eva Mäder über: Pamjat’ i vremja. Al’manach. Vyp. 1. Sost. Vadim Akopjan. Minsk: Vydav. Medisont, 2014. 415 S., 40 Abb., 1 Kte. ISBN: 978-985-7085-23-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Maeder_Akopjan_Pamjat_i_vremja.html (Datum des Seitenbesuchs)

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