Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 1 (2011), 3 Rezensionen online
Verfasst von: Eva Maeder
Sharon A. Kowalsky: Deviant Women. Female Crime and Criminology in Revolutionary Russia, 1880–1930. DeKalb, IL: Northern Illinois University Press, 2009. XII, 314 S., 11 Tab. ISBN: 978-0-87580-406-4.
Verbrechen faszinieren, besonders wenn diese von Frauen verübt werden und sich gegen Familienmitglieder richten. Solche Taten erschüttern herkömmliche Vorstellungen vom ‚schönen Geschlecht‘, von Mutterliebe und Brutpflege. Der Umgang mit ihnen lässt aber noch weitergehende Schlussfolgerungen darauf zu, wo die Grenze des gesellschaftlich akzeptierten Verhaltens liegt. In der Sowjetunion der 1920er Jahre galt Kriminalität beispielsweise als Gradmesser für die Distanz, die man auf dem Weg zur sozialistischen und dadurch per definitionem verbrechensfreien Gesellschaft bereits zurückgelegt habe. Deshalb blühte in dieser Zeit die sowjetische Kriminologie. Zahlreiche Vertreter unterschiedlicher Fachrichtungen – Juristen, Ärzte, Soziologen, Anthropologen, Psychiater, Statistiker und forensische Experten – versuchten gemeinsam zu ergründen, warum Frauen ungeachtet von familiären Bindungen Verbrechen begingen. Die amerikanische Historikerin Sharon Kowalsky wiederum nutzte deren Arbeiten als Quelle zur Analyse der damaligen Diskurse und untersucht, wie die Kriminologen über ihre Publikationen definierten, was ‚korrektes‘ weibliches Verhalten sei.
In fünf thematischen Kapiteln schildert die Autorin die Entstehung kriminologischer Erklärungsmodelle im 18. und 19. Jahrhundert, die professionelle Organisation durch Gründung kriminologischer Institute in den 1920er Jahren, die kriminologische Wahrnehmung weiblicher Sexualität, die „Geographie des Verbrechens“ in Form von Stadt-Land-Unterschieden sowie Theorie und Praxis der Kriminologie beim Kindsmord.
Die sowjetische Kriminologie operierte keineswegs im luftleeren Raum, sondern dachte Konzepte weiter, die im Italien des 18. und 19. Jahrhunderts entstanden waren. Dabei lassen sich, vereinfacht gesagt, zwei Schulen unterscheiden: Ursprünglich vertraten viele die auf Cesare Lombroso (1835‒1909) zurück gehende Lehre, dass Verbrecher aufgrund von angeborenen Veranlagungen handelten. Da sich das Verhalten dem Willen und den äußeren Umständen entziehe, könne man es weder ändern noch Kriminalität zum Verschwinden bringen.
Lombrosos Erklärungsmodell wurde seit seiner Entstehenszeit wiederholt als zu deterministisch und pessimistisch kritisiert. Als Alternative dazu betrachteten die Anhänger der sogenannten „soziologischen Schule“ Verbrechen hauptsächlich als Produkt der sozialen und ökonomischen Umstände und gewichteten demgegenüber die physiognomischen Indizien und genetischen Faktoren weniger stark. Diese Begünstigung des veränderbaren Umfelds entsprach der marxistisch-materialistischen Denkweise der Bol’ševiki und wurde nach 1917 politisch gefördert.
Um so mehr erstaunt es, dass in den kriminologischen Studien – unabhängig davon, ob sie von Männern oder den wenigen Frauen in diesem Gebiet verfasst wurden – dennoch traditionelle Vorstellungen vom Wesen der Frau dominierten, die näher bei Lombrosos Konzept lagen und diese im wesentlichen auf ihren Körper reduzierten. Die nicht weiter reflektierte Prämisse führte dazu, dass die Kriminologen sich auf die „typischen“ Verbrechen von Frauen wie Kindsmord, Ermordung des Ehemanns oder, harmloser, das illegale Herstellen von Alkohol (Samogon) konzentrierten. Ebenfalls waren sie rasch bereit, den Frauen mildernde Umstände zuzusprechen, da angeblich biologische Zyklen wie Monatsblutungen und Schwangerschaft ihr Verhalten steuerten und sie irrational handeln ließen. Deshalb ordneten die Gelehrten Frauen der Sparte „rückständig“ zu und brachten sie damit in direkte Verbindung zu den Bauern. Das passte – fanden laut dieser Vorstellung doch die meisten weiblichen Verbrechen auf dem Dorf statt.
Die Vorurteile lieferten wohl eine einleuchtende und für die Frauen durchaus auch vorteilhafte Erklärung für Verbrechen. Sie verschlossen aber die Augen der Kriminologen für die Tatsache, dass Frauen aus allen Schichten von den neuen Möglichkeiten Gebrauch machten, die das moderne Leben bot. Sie erlernten Berufe, begingen ‚männliche‘ Verbrechen wie Veruntreuung, und sie forderten nach der Trennung Alimente vom Vater ihrer Kinder. Das Problem lag somit nicht bei den Frauen, sondern beim Staat, der die Gesetze zur Gleichstellung der Frau nur zur Hälfte umsetzten.
Nach 1917 verliehen die Bol’šewiki den Frauen politische Rechte, vereinfachten Scheidungen und führten Alimente ein. Doch Männer, die diese nicht bezahlten, wurden selten bestraft. Das bedeutete, dass Frauen in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit oft alleine für die Kinder aufkommen mussten. Sie waren weiterhin auch besonders häufig Opfer ungeahndeter familiärer Gewalt. Ungeahndet blieben vielfach auch Gewaltakte gegen Frauen. Töteten also Frauen ihr Kind nicht vielleicht eher, weil sie es nicht ernähren konnten, und den Mann aus Gegenwehr?
Aus heutiger Sicht spricht vieles für das soziologische Modell, die Kriminologen damals entschieden aber anders. Kowalsky erklärt diesen Befund mit dem Fortleben traditioneller Rollenbilder nach 1917, sieht darin aber auch eine Vorbereitung der politischen Wende am Ende der NĖP.
1928 beschloss die sowjetische Führung den Übergang zur Planwirtschaft und die beschleunigte Industrialisierung des Landes. Damit verschwand der politische Wille endgültig, die nötigen finanziellen Mittel zur Umsetzung der Geschlechtergleichheit bereitzustellen. Der kriminologische Nachweis der ‚Rückständigkeit‘ der Frau kam dabei gerade gelegen, konnte man doch so den Traum von der wirtschaftlichen Unabhängigkeit für verfrüht erklären. Die erleichterte Scheidung wurde aufgehoben und den Familien erneut die Pflicht übertragen, für ihre Mitglieder zu sorgen. Was Historiker lange als Abkehr von den revolutionären Idealen gedeutet haben, wird hier zu deren Neuinterpretation vor dem Hintergrund geänderter Umstände.
Kowalskys Studie liefert einen wichtigen Beitrag zur Stellung der Frau in der frühen sowjetischen Gesellschaft. Sehr sorgfältig recherchiert, wirken die Ausführungen etwas gar in die Länge gezogen; ähnliche Passagen werden teilweise mehrfach wiederholt. Wirklich schade ist aber, dass sich Kowalsky bewusst darauf beschränkt hat, die Sichtweise der Kriminologen zu rekonstruieren. Was die Frauen tatsächlich zur Tat motiviert hat, interessiert nicht und lässt sich in den meisten Fällen wohl auch nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Doch man könnte sich ihrem Schicksal durch Beizug weiterer Quellen wie beispielsweise Gerichtsakten zumindest annähern. Damit würden auch die sozialgeschichtlichen Fragen beantwortet, die das Buch aufwirft, und somit könnte das volle Potential des Themas ausgeschöpft werden. Denn schließlich: Sind es nicht Lebensumstände und Verbrechensgeschichten, die selbst den modernen wissenschaftlichen Leser am meisten interessieren?
Eva Maeder, Winterthur
Zitierweise: Eva Maeder über: Sharon A. Kowalsky: Deviant Women. Female Crime and Criminology in Revolutionary Russia, 1880–1930. DeKalb, IL: Northern Illinois University Press, 2009. XII. ISBN: 978-0-87580-406-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Maeder_Kowalsky_Deviant_Women.html (Datum des Seitenbesuchs)
© 2011 by Osteuropa-Institut Regensburg and Eva Maeder. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de