Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 5 (2015), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Martin Munke
Gerhard Wolf: Ideologie und Herrschaftsrationalität. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen. Hamburg: Hamburger Edition, 2012. 528 S., Kte. = Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. ISBN: 978-3-86854-245-5.
Intentionalisten versus Funktionalisten bzw. Strukturalisten – das Gegenüber dieser Begriffe hat die Forschung zum Holocaust und zur nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft über Jahrzehnte geprägt. Entgegen der Konstruktion strikter Konfrontativverhältnisse hat sich zuletzt mehr und mehr herausgestellt, dass sich solche Gegensatzpaare „nicht ausschließen, sondern dass sie unterschiedliche Aspekte der historischen Wirklichkeit beleuchten und sich ergänzen, ja sich gegenseitig bedingen“ (Peter Longerich). Die Dialektik von „ideologischen Prämissen und herrschaftsrationalen Anforderungen“ (S. 21) ist es, die auch die Studie von Wolf zur Germanisierungspolitik im besetzten Polen prägt. Hervorgegangen aus einer von Michael Wildt und Jörg Baberowski begutachteten Dissertation bildet sie einen wichtigen Beitrag zur Forschung über die NS-Besatzungspolitik im östlichen Europa und zum Verhältnis von ideologischen und pragmatischen Herrschaftselementen im NS-Staat.
Etwas irreführend ist hierbei der Untertitel, der eine Behandlung ganz Polens suggeriert. Der Autor beschränkt sich in seiner Analyse nämlich auf Westpolen, also die „Reichsgaue“ Wartheland und Danzig-Westpreußen sowie das dem Gau Oberschlesien angeschlossene Ostoberschlesien – das Generalgouvernement bleibt außen vor. Dies ist im Hinblick auf den im Klappentext formulierten Anspruch, die Studie breche „mit den gängigen Annahmen über nationalsozialistische Besatzungspolitik“, nicht ganz unwichtig: Ob die Ergebnisse so pauschal auf das gesamte polnische Territorium bzw. darüber hinaus auf die Reichskommissariate übertragen werden können, wie dies Wolf in seinem Fazit zumindest andeutet, scheint fraglich. Eine vorläufige Bilanz entsprechender Forschungsunternehmungen sollte auf einer Tagung des Dresdener Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung unter dem Titel „,Rassische‘ Segregation. Ideologie und Pragmatismus in der Volkstumspolitik des Nationalsozialismus. Neue Forschungen“, auf der auch Wolf vortrug, im September 2013 gezogen werden.
Auf der Basis von Archivmaterial aus Deutschland, Österreich, Polen und Russland sowie einer umfangreichen Rezeption vor allem auch der polnischen Forschung entwirft der an der School of History der University of Sussex tätige Historiker eine in ihrem Detailreichtum bisher nicht existierende Schilderung der Germanisierungspolitik in Westpolen. Dies geschieht in fünf chronologisch angeordneten Kapiteln. Einleitend werden knapp die Politiken im Kaiserreich und der Weimarer Republik gegenüber der polnischen Minderheit geschildert, wobei die Betonung der „antipolnischen Spitze“ des Kulturkampfes in Anknüpfung an Hans-Ulrich Wehler als recht pointiert erscheint. Auch hier spricht der Klappentext prominent von „Kontinuitäten der preußischen Germanisierungspolitik bis in die NS-Zeit“ – dies wird von Wolf dann jedoch insoweit relativiert, als seiner Meinung nach die Politik der Zivilverwaltung „in [ihrer] Logik auf die preußischen Vorläufer verweist“, diese „in [ihrem] Ausmaß aber bei weitem überschreitet.“ (S. 467) Für die Zeit der Weimarer Republik wäre zudem ein Vergleich mit der Minderheitenpolitik der Zweiten Polnischen Republik interessant gewesen. Und in den Verträgen von Locarno in Anknüpfung an Gottfried Schramm „den Anfang ,der Verfallsgeschichte des europäischen Sicherheitssystems‘“ (S. 56) zu sehen, erscheint angesichts der zahlreichen in den Pariser Vorortverträgen ungelöst gebliebenen Minderheitenfragen ebenfalls als hinterfragbar – besonders, wenn zwei Seiten zuvor die polnischen Kriegshandlungen der Jahre 1919 bis 1921 im Osten lapidar in einem Halbsatz mit dem Hinweis auf die „Unzufrieden[heit] mit der östlichen Grenzziehung der Siegermächte“ (S. 54) abgehandelt werden.
Die folgenden Hauptkapitel befassen sich mit der Etablierung der Besatzungsherrschaft nach dem deutschen Überfall, der Stabilisierung dieser Herrschaft, der auf dieser Grundlage durchgeführten Bevölkerungspolitik und deren konkreter Ausformung als Ausbeutungs-, aber auch als Assimilierungspolitik. Überzeugend gelingt es Wolf herauszuarbeiten, dass die Selektionspolitik, im Rahmen etwa der verschiedenen Abteilungen der „Deutschen Volksliste“, mit ihren jeweiligen rechtlichen Konsequenzen durchaus auch für Teile der polnischen Bevölkerung eine gewisse inklusive Wirkung hatte. Entgegen der Himmlerschen Forderung nach einer bedingungslosen „rassischen Musterung“ konnte die Zivilverwaltung gerade im fortschreitenden Kriegsverlauf zahlreiche herrschaftsrationale Entscheidungen durchsetzen. Dazu zählten auch beispielsweise in Oberschlesien Bemühungen um wirtschaftliche Erleichterungen für denjenigen Teil der polnischen Bevölkerung, der außerhalb der „Volksliste“ stand. Überhaupt waren es Faktoren wie die „Arbeitsleistung“, die nach Ansicht der Vertreter der Zivilverwaltung über die „Eindeutschungsfähigkeit“ entscheiden sollten. Ausgeschlossen blieben dabei natürlich die jüdische Bevölkerung, „politische Gegner“ und die polnische Elite. Zu konstatieren sind dabei außerdem gewisse Unterschiede zwischen den analysierten Regionen. Im Warthegau spielte das Element der „politischen Zuverlässigkeit“ anfänglich eine entscheidendere Rolle, ohne dass das „Wirtschaftlichkeitsdenken“ außer Acht gelassen wurde: Die Deportation von Arbeitskräften wurde frühzeitig verboten. In Oberschlesien – wo 90 Prozent der Bevölkerung in die „Volksliste“ aufgenommen wurden waren – kam es gar zur Forderung, die Ungleichbehandlung, die sich an der Grenze der ehemaligen Teilungsgebiete orientierte, im Sinne der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen „europäischen Kulturnation“ ganz aufzuheben. Die Kategorie „Rasse“ spielte dabei augenscheinlich die geringste Rolle. Stattdessen war es der Begriff des „Volkes“, unter dessen weiter ideologischer Spannbreite unterschiedliche Selektionsansätze gefasst werden konnten.
Mit der mit alledem einhergehenden Relativierung der Rolle des Rassekonstrukts in der Besatzungsherrschaft des nationalsozialistischen Deutschlands steht Wolf entgegen zahlreichen Behauptungen im Buch nun nicht unbedingt allein da. Der bereits genannte Christian Gerlach, aber auch Dieter Pohl haben in ihren Studien zur Vernichtungs- und Besatzungspolitik die Ambivalenz der ideologischen Komponente und ihr Wechselspiel mit pragmatischen Elementen mehrfach herausgestrichen. In der Dichte der Details und der Darstellung für den Bereich Westpolen bildet Wolfs Studie gleichwohl eine sehr instruktive Arbeit, die zur Anknüpfung, in manchen Wertungen aber auch zu Widerspruch anregen dürfte.
Zitierweise: Martin Munke über: Gerhard Wolf: Ideologie und Herrschaftsrationalität. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen. Hamburg: Hamburger Edition, 2012. 528 S., Kte. = Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. ISBN: 978-3-86854-245-5, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Munke_Wolf_Ideologie_und_Herrschaftsrationalitaet.html (Datum des Seitenbesuchs)
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