Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 5 (2015), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Holm Sundhaussen
M. Robert Hayden: From Yugoslavia to the Western Balkans. Studies of a European Disunion, 1991–2011. Leiden, Boston, MA: Brill, 2013. XVIII, 391 S. = Balkan Studies Library, 7. ISBN: 978-90-04-24190-9.
Robert M. Hayden, Professor für Anthropologie und Recht an der Universität Pittsburgh, der sich seit Jahren mit (Ex-)Jugoslawien beschäftigt – vgl. u. a. seine 1999 in Ann Arbor erschienene Monographie Blueprints for a House Divided: The Constitutional Logic of the Yugoslav Conflicts –, hat im vorliegenden Band 16 Beiträge zusammengeführt, die er (mit Ausnahme des kurzen letzten Artikels) zwischen 1993 und 2011 bereits in verschiedenen Zeitschriften oder Sammelbänden veröffentlicht hat. Sie befassen sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Krise und Zerfall Jugoslawiens, den postjugoslawischen Kriegen und der „Aufarbeitung“ dieser Kriegszeit, insbesondere durch das Haager Kriegsverbrechertribunal und durch Menschenrechtsaktivisten. Haydens Thesen fallen zumeist nüchtern und desillusionierend oder provokativ aus. Lesenswert sind sie allemal. Der Autor weiß, dass seine Argumente viele Angriffsflächen bieten und dass sich die vom Krieg betroffenen Menschen ebenso wie Menschenrechtsaktivisten über ihn aufregen werden. Aber er besitzt genügend Selbstbewusstsein, um das aushalten zu können.
Vieles von dem, was Hayden in den neunziger Jahren veröffentlicht hat (über nationale Stereotypen, über die wechselseitige, teilweise bizarre Aufrechnung von Opfern aus dem Zweiten Weltkrieg, über Miloševićs und Tudjmans Pläne zur Aufteilung Bosniens oder über ethnische Säuberungen), ist mittlerweile durch Veröffentlichungen vieler anderer Autorinnen und Autoren bestätigt und vertieft worden. Aber es bleibt noch genügend Stoff für Kontroversen. Dazu gehören (u. a.) Haydens Darstellung der völkerrechtlichen Problematik des jugoslawischen Staatszerfalls, seine Attacken gegen Menschenrechtsaktivisten im ehemaligen Jugoslawien („Humanrightsism“), seine Zweifel an der Klassifizierung des Massenmords von Srebrenica als „Völkermord“, seine Anklagen gegen den NATO-Krieg von 1999, seine harsche Kritik am Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag oder seine Ausführungen über Gegenwart und Zukunftsperspektiven Bosniens („Demokratie“ ohne Demos). Im Rahmen einer Besprechung ist es freilich schier unmöglich, sich mit Haydens Thesen detailliert auseinanderzusetzen. Einige wenige Bemerkungen müssen genügen.
Die 1991 von der damaligen EG eingesetzte Badinter-Kommission, die Gutachten zu den völkerrechtlichen Aspekten der Auflösung Jugoslawiens erstellen sollte, hat sich für die Unverletzbarkeit der Grenzen ausgesprochen (sowohl der jugoslawischen Außengrenzen wie der innerjugoslawischen Grenzen zwischen den Republiken). Das Recht auf Selbstbestimmung dürfe nicht mit einer einseitigen Veränderung bestehender (innerjugoslawischer) Grenzen verbunden werden. Hayden dagegen fragt, warum im Fall der Sezession Sloweniens und Kroatiens nicht auch den in Kroatien oder in Bosnien lebenden Serben (die Albaner in Kosovo lässt er außer Betracht) ein Recht auf Sezession eingeräumt wurde. Dem „uti possidetis“-Prinzip der Badinter-Kommission setzt Hayden eine Grundsatzfrage entgegen, ohne allerdings zu erklären, wie das in der Praxis hätte funktionieren sollen und wie weit man das (territorial verstandene) Selbstbestimmungsrecht auf regionaler (ggf. auch auf dörflicher?) Ebene realisieren kann. Der Konflikt zwischen völkerrechtlicher Pragmatik und Fundamentalrecht ist unverkennbar, aber wie er einvernehmlich und konsensfähig zu lösen ist, weiß offenbar auch Hayden nicht.
Dass das Haager Kriegsverbrechertribunal den Massenmord in Srebrenica vom Sommer 1995 als „Genozid“ verurteilt hat, wirft eine Reihe von Fragen auf. Hayden bestreitet nicht die Abscheulichkeit des Verbrechens, hat jedoch Zweifel daran, ob die Ermordung von ca. 8000 (wehrfähigen) Männern (unter Ausklammerung der Frauen) mit der Definition von „Völkermord“ aus der UN-Konvention von 1948 in Übereinstimmung zu bringen ist. Die Argumentation des Gerichts ist aus Haydens Sicht nicht widerspruchsfrei und überzeugend. Was er befürchtet, ist eine Aufweichung des Begriffs „Völkermord“.
Das Haager Tribunal ist dem Autor grundsätzlich ein Dorn im Auge. Zu Recht weist er darauf hin, dass die Urteile des Tribunals den Versöhnungsprozess im ehemaligen Jugoslawien eher erschweren als befördern, dass die enormen Kosten für das Tribunal in einem Missverhältnis stehen zu den Hilfeleistungen für die Menschen in den vormaligen Kriegsgebieten und dass die bereits 20-jährige Tätigkeit des Tribunals kontraproduktiv sei. Das Tribunal als „Kriegsgewinner“ abzustempeln, geht allerdings über eine bloße Provokation weit hinaus. Dass die justizielle Aufarbeitung von Massengewalt ein Langzeitprozess ist, wissen wir auch aus anderen Fällen. Zu glauben, das könnte im ehemaligen Jugoslawien anders sein, ist ziemlich unrealistisch. Und dass einheimische Gerichte dieser Aufgabe besser hätten gerecht werden können, muss man mit Fug und Recht bezweifeln. Es wird wohl sicher noch zwei oder drei Jahrzehnte dauern, bis man die Tätigkeit und Bedeutung des Gerichts abschließend bewerten kann. Haydens Schnellschuss ist keine Hilfe.
Auch mit der Existenz Bosniens liegt Hayden überquer. Immer wieder zieht er die Existenzberechtigung des Staates in Frage, da die bosnischen Serben und ein Großteil der bosnischen Kroaten diesen Staat nicht wollten. An dieser (wie an anderen Stellen seiner Arbeiten) wird deutlich, dass Hayden kein Historiker ist. Er geht von bestehenden Zuständen aus (und in dieser Hinsicht sind seine Einschätzungen meist realistisch), aber was ihn offenbar nicht interessiert, sind Veränderungen/Prozesse. Er fragt weder, wie eine bestimmte Situation entstanden ist, noch hält er deren Veränderung für möglich. Für ihn ist es eine Tatsache, dass Bosniaken, bosnische Serben und bosnische Kroaten nicht miteinander leben wollen und können, und deshalb plädiert er dafür, dass Wunschbild eines multiethnischen Bosnien ad acta zu legen. Er scheint eine Teilung Bosniens zwischen Serbien und Kroatien unter Beibehaltung eines bosniakischen Territoriums zu favorisieren und damit letztlich das Ergebnis der ethnischen Säuberungen in den neunziger Jahren zu legitimieren. Das war ja in der Tat die Marschrichtung der internationalen Akteure seit der griechisch-türkischen Konvention von 1923 (bis zur Kehrtwende im Dayton-Abkommen von 1995). Dass die vom damaligen Völkerbund (wenn auch mit schlechtem Gewissen) Anfang der zwanziger Jahre sanktionierten ethnischen Säuberungen nachfolgende Politiker unterschiedlichster Couleur zur Nachahmung animiert hat, will Hayden nicht zur Kenntnis nehmen. Dem Wunschdenken der internationalen Gemeinschaft anlässlich des Dayton-Abkommens von 1995 (Beibehaltung eines multiethnischen Staates) setzt Hayden sein eigenes (unhistorisches) Wunschdenken (Konfliktvermeidung durch ethnische Trennung) entgegen. Ob dieses Konzept besser ist, darüber lässt sich freilich trefflich streiten.
Ich bin mir bewusst, dass diese knapp gehaltenen Bemerkungen weder der Argumentation Haydens noch meiner eigenen Argumentation gerecht werden können. Aber alles andere hätte den Rahmen einer Besprechung gesprengt.
Zitierweise: Holm Sundhaussen über: M. Robert Hayden: From Yugoslavia to the Western Balkans. Studies of a European Disunion, 1991–2011. Leiden, Boston, MA: Brill, 2013. XVIII, 391 S. = Balkan Studies Library, 7. ISBN: 978-90-04-24190-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Sundhaussen_Hayden_From_Yugoslavia_to_the_Western_Balkans.html (Datum des Seitenbesuchs)
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